Bisher ist Multiple Sklerose nur medikamentös behandelbar. Forscher wollen nun einen Therapieansatz weiter entwickeln, bei dem durch eine Impfung die Leber angeregt werden soll, schützende Immunzellen gegen die Autoimmunkrankheit zu produzieren.
Die menschliche Leber entgiftet nicht nur das Blut, sondern ist auch an der Immunabwehr von Nahrungsantigenen beteiligt. Sobald die schädlichen Moleküle aus dem Weg geräumt worden sind, entstehen in der Leber spezielle Immunzellen, die darfür sorgen, dass die Körperabwehr abgeschaltet wird. Die regulatorischen T-Zellen, wie sie im Fachjargon heißen, haben aber noch weitere Aufgaben. So können sie möglicherweise Autoantigene unschädlich machen, die im Verdacht stehen, Autoimmunerkrankungen wie die Multiple Sklerose (MS) auszulösen.
Forscher des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) um Privatdozent Stefan Lüth möchten nun eine Impfung entwickeln, mit deren Hilfe die Produktion von bestimmten regulatorischen T-Zellen angeregt werden soll, um bei MS-Patienten das Fortschreiten der Erkrankungen aufzuhalten. Wie Lüth in einer Pressemitteilung des Universitätsklinikums mitteilt, konnten er und seine Mitarbeiter mit dieser Methode bereits bei Mäusen den Ausbruch einer der menschlichen MS ähnlichen Autoimmunkrankheit verhindern.
Leber präsentiert Antigene den Immunzellen
Normalerweise werden körpereigene Proteine in kleine Einzelteile aus acht bis zwölf Aminosäuren zerlegt und dem Immunsystem als Autoantigene präsentiert. Wie Lüth in einer früheren Arbeit zeigen konnte, nehmen nicht nur spezialisierte Immunzellen wie zum Beispiel Makrophagen diese Proteinbruchstücke auf, sondern auch normale Leberzellen. Spezielle MHC-Rezeptorproteine binden die aufgenommenen Autoantigene im Inneren dieser Zellen. Anschließend wird der Komplex aus Rezeptor und Autoantigen an die Zelloberfläche transportiert, wo er vom Immunsystem erkannt wird und unter anderem die Bildung von regulatorischen T-Zellen anregt.
“Je stärker die Bindung zwischen dem Rezeptor und einem Autoantigen ist, desto mehr dieser schützenden Immunzellen könnten in der Leber entstehen“, sagt Lüth, der Mitarbeiter in der Abteilung von Professor Ansgar Lohse an der I. Medizinischen Klinik des UKE ist. „Wenn dieser Mechanismus nicht richtig funktioniert, hat das möglicherweise zur Folge, dass die regulatorischen T-Zellen fehlen und somit Autoimmunkrankheiten ausbrechen.“
Protein der Myelinscheide löst Immunreaktion aus
Bei Multipler Sklerose ist bekannt, dass das Myelin-basische Protein (MBP) als Autoantigen die Krankheit auslösen kann. Das Protein ist ein wichtiger Bestandteil der Myelinscheide, die als Isolationsschicht die Fortsätze der Nervenzellen umhüllt. Auch bei Mäusen löst dieses Protein, wenn man es den Tieren injiziert, eine MS-ähnliche Krankheit aus. Innerhalb von rund 15 Tagen nach der Injektion treten in den Hinterbeinen der Mäuse starke Lähmungen auf.
Lüth hatte nun die Idee, die Struktur des krankmachenden Proteins so zu verändern, dass es nicht mehr das Immunsystem zu den verhängnisvollen Attacken gegen die Myelinscheide veranlasst, sondern stattdessen die Produktion von regulatorischen T-Zellen anregt und so einen möglichen Ausbruch der Erkrankung verhindert. „Wahrscheinlich reicht schon eine geringe Anzahl regulatorischer T-Zellen aus, um eine Maus vor den Lähmungen zu bewahren“, sagt Lüth. Er und seine Mitarbeiter konnten auf der Oberfläche des Myelin-basischen Proteins bestimmte Abfolgen von Aminosäuren identifizieren, deren Austausch gegen andere Aminosäuren zur Folge hat, dass die Bindung zwischen Antigen und dem MHC-Rezeptor verstärkt werden könnte. Dadurch, so der Mediziner, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass mehr regulatorische T-Zellen entstehen.
Genfähre bringt verändertes Protein in die Leber
Um ihre Idee in der Praxis zu überprüfen, schleusten die Forscher mit Hilfe einer Genfähre die Bauanleitung des veränderten Proteins in die Leber von Mäusen. „In den Leberzellen wird das mutierte MBP zuerst hergestellt, dann in seine Bestandteile zerlegt und diese schließlich dem Immunsystem präsentiert“, erklärt Lüth. Die so behandelten Mäuse waren wirkungsvoll vor der Autoimmunerkrankung geschützt, wenn man ihnen anschließend unverändertes MBP injizierte. Im Gegensatz zu Mäusen, die nur eine leere Genfähre erhalten hatten, und bei denen die Krankheit nach wie vor ausbrach, sobald ihnen unverändertes MBP verabreicht wurde.
Als nächsten Schritt plant Lüth Mäuse, die schon an Lähmungen leiden, mit der neuen Methode zu behandeln: „Wir möchten herausfinden, ob eine Impfung auch kranken Mäusen hilft.“ Bei anderen Experten stößt Lüths Idee einer Impfung gegen Multiple Sklerose auf große Resonanz: „Lüths Ansatz ist ein wichtiger Schritt aus der Grundlagenforschung in die klinische Therapieerprobung“, findet Professor Percy Knolle, Direktor des Instituts für Molekulare Medizin am Universitätsklinikum Bonn.
Sanfterer Gentransfer ist in Entwicklung
Allerdings, so Knolle, müsse man die Entwicklung von nicht-viralen Genfähren vorantreiben, denn virale Genfähren bergen die Gefahr, dass sie unerwünschte Entzündungen auslösen könnten. Lüth möchte deswegen in den kommenden Monaten weitere Methoden ausprobieren, mit deren Hilfe man die gewünschten Antigene sanfter als bisher in die Leberzellen bringen kann. Erst wenn dieses Problem gelöst ist, kann sich Lüth vorstellen, eine klinische Studie mit schwer kranken MS-Patienten zu beginnen.
Aber selbst wenn die neue Methode einzelnen Patienten helfen würde, so erscheint es unwahrscheinlich, dass sie eine Lösung für alle an MS erkrankten Personen darstellen könnte: „Es gibt mehr als 300 weitere Proteine in der Myelinscheide“, sagt Professor Roland Martin, Direktor des Instituts für Neuroimmunologie und Klinische Multiple Skleroseforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Und alle können im Prinzip die Autoimmunkrankheit auslösen.“ Dennoch meint Martin, dass man Lüths Idee einer MS-Impfung auf jeden Fall weiter verfolgen soll: „Sie wäre im Vergleich zu vielen bereits zugelassenen MS-Medikamenten relativ arm an Nebenwirkungen und könnte vielleicht, wenn man sie bereits im Frühstadium der Krankheit anwenden würde, deren Fortschreiten wirkungsvoll verhindern.“