Kein Brot, keine Fertigprodukte: Die Verbotsliste für Zöliakie-Patienten ist lang. Wegen einer genetischen Anomalie reagiert ihr Körper aggressiv auf Gluten. Diese falsche Immunantwort führt zu einer chronischen Entzündung der Dünndarmwand.
Eigentlich ein harmloses Gemisch etlicher Proteine aus Getreidekörnern, bekämpft der Körper von Zöliakie-Patienten das sogenannte Klebeeiweiß als Eindringling. Verschwindend geringe Mengen von rund 20 bis 50 Milligramm Gluten reichen schon aus, um starken Durchfall oder Bauchschmerzen hervorzurufen. Zum Vergleich: Diese Menge ist in 0,3 bis 0,8 Gramm handelsüblichem Brot enthalten.
Momentan hilft nur ein strikter Verzicht auf Roggen und Weizen, Dinkel und Gerste. Alternativ stehen Amaranth, Buchweizen, Hirse, Kartoffeln, Mais oder Reis auf dem Speiseplan – vor allem beim Backen garantieren sie keine kulinarischen Höhepunkte. Am Hafer scheiden sich die Geister. Mehrere Studien aus skandinavischen Ländern bescheinigen eine gute Verträglichkeit, mit einem Haken: Entsprechende Produkte wurden lebensmitteltechnologisch aufgereinigt und erwiesen sich als besonders allergiearm. In Deutschland sind diese derzeit nicht erhältlich.
Nicht immer lässt sich eine Zöliakie auf den ersten Blick erkennen und durch diätische Maßnahmen bessern. Leichtere Formen verstecken sich hinter diffusen Beschwerden wie Durchfall in Stresssituationen oder Unwohlsein. Aber auch eine Depression oder eine ausgeprägte Schlafstörung kann auf diese Grunderkrankung zurückzuführen sein. Und bei Kindern beobachten Pädiater schwer zu interpretierende Entwicklungsstörungen. Angesichts der diffusen Symptomatik bezeichnet der Gastronenterologe Prof. Dr. Andreas Stallmach vom Uniklinikum Jena die Zöliakie als „Chamäleon unter den Magen-Darm-Erkrankungen“: Teilweise lange Jahre übersehen, haben viele Patienten bis zur Diagnose eine wahre Odyssee hinter sich. Und die Zahl der Betroffenen steigt rapide an. Dazu werteten Fachärzte der amerikanischen Mayo-Klinik Patientendaten aus. Ihr Ergebnis aus Screening-Untersuchungen: Nahezu jeder 100. US-Patient quält sich mit dieser speziellen Nahrungsmittelunverträglichkeit, Tendenz steigend. Für Deutschland lassen sich Prävalenten von 1 zu 500 angeben. Manifeste Symptome treten aber nur bei einem Bruchteil auf.
Ein Leiden kommt selten allein
Den Auslösern der Zöliakie kamen Forscher der Uni Oslo auf die Schliche: Ein mutiertes Gen führt zu Veränderungen des Immunsystems. T-Zellen bilden daraufhin atypische Oberflächenstrukturen aus, und das hat Folgen: Glutene werden von diesen Immunzellen fester als eigentlich erforderlich gebunden, als gefährlich eingestuft, und schließlich bekämpft. Durch das körpereigene Enzym Gewebetransglutaminase entstehen aus den harmlosen Getreideeiweißen biologische Superwaffen. Über mehrere Schritte aktivieren Stoffwechselprodukte dann körpereigene Botenstoffe. Die Folge: Entzündungsprozesse schädigen die Schleimhaut des Dünndarms. Im Blut lassen sich dann entsprechende Antikörper nachweisen, ein Verfahren, das mittlerweile bis zum Schnelltest für den Hausgebrauch weiterentwickelt wurde.
Ein weiteres Puzzleteilchen: Zöliakie-Geplagte leiden oft an Typ 1-Diabetes, und das ist kein Zufall. Die Erklärung fand jetzt ein internationales Konsortium in Form von Risikogenen, die mit beiden Krankheitsbildern assoziiert sind. Und summa summarum ermittelten schwedische Forscher ein vierfach höheres Mortalitätsrisiko. Sie hatten Daten von rund 20.000 Patienten mit verschieden stark ausgeprägter Zöliakie ausgewertet. Die Sterberate war bei heftigen Formen um 39 Prozent sowie bei latenten Ausprägungen um 35 Prozent erhöht. Neben Herz-Kreislauf-Risiken führten die Autoren vor allem Lymphdrüsenkrebs im Dünndarm, bekannt als Non-Hodgkin-Lymphom, als Gründe an. Genaue Mechanismen sind noch nicht entschlüsselt, aber auch hier vermuten Forscher, dass die Autoimmunerkrankung den entscheidenden Beitrag liefert.
Kleine Kinder – große Sorgen
Beginnen Mütter nach dem Abstillen mit normaler, sprich glutenhaltiger Kost, quälen sich die kleinen Zöliakie-Patienten mit massiven Blähungen, Durchfall und Übelkeit. Um bessere Empfehlungen zu geben, riefen Forscher europaweit die „PreventCD“-Studie ins Leben: Diese untersucht an Kindern mit genetisch erhöhtem erblichen Risiko, inwieweit sich die Ernährung in jungen Jahren auf die Ausprägung des Krankheitsbildes auswirkt. Daraus könnten Pädiater im besten Falle neue Ernährungsrichtlinien ableiten. Ein Ansatzpunkt: Zur Vorbeugung von Zöliakie sollen das Immunsystem des Nachwuchses durch geringe Mengen an Gluten einen vernünftigen Umgang mit diesem Eiweiß „erlernen“. Aus Schweden liegen dazu bereits positive Erfahrungen vor. Während der Stillphase konnte die gezielte „Impfung“ mit kleinen Dosen an Gluten verhindern, dass sich die entsprechenden Symptome ausbilden. „Die Einführung glutenhaltiger Beikost, solange noch gestillt wird, scheint das Risiko für Zöliakie und Typ 1-Diabetes zu senken“, so Dr. Anke Weißenborn vom Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin.
Ein Kessel Buntes
Auf molekularer Ebene verbergen sich in Gluten zahlreiche Bestandteile. Biologen konnten mittlerweile die eigentlich gefährlichen Komponenten identifizieren: Gliadine im Weizen, Avenine im Hafer, Secalinine im Roggen oder Hordeine in der Gerste. Australische und englische Wissenschaftler gingen noch einen Schritt weiter. Im Rahmen einer Langzeitstudie hatten sie ein Verfahren etabliert, um rund 2700 Eiweißbruchstücke nachweisen zu können. Dann ging es freiwilligen Testpersonen an den Kragen: Sie mussten mehrere Tage lang glutenhaltige Nahrungsmittel essen. Im Blut entdeckten Ärzte daraufhin rund 90 Proteinbruchstücke, die eine Immunreaktion hervorriefen. Alle Fragmente ließen sich im Wesentlichen drei großen Untereinheiten zuordnen, die von T-Helferzellen erkannt wurden. Mit diesem Wissen wäre eine gezielte Hyposensibilisierung gegen die Zöliakie-Auslöser realisierbar.
Es gibt viel zu tun
Kürzlich sorgte eine wissenschaftliche Arbeit für Aufsehen. Amerikanischen Forschern war es gelungen, in Gewebeproben von Patienten erhöhte Spiegel des Entzündungsfaktors Interleukin-15 nachzuweisen. Und Mäuse, die aufgrund eines gezielt erzeugten genetischen Defekts besonders anfällig für Zöliakie waren, zeigten bei künstlicher Gabe des Botenstoffs entsprechende Symptome. Hingegen verbesserte sich die Krankheit zumindest im Tiermodell, nachdem das tückische Immunmolekül blockiert wurde. Damit nicht genug: Retinsäure, ein Stoffwechselprodukte des Vitamins A, aktiviert dieses Entzündungsgeschehen. Bereits früher beschrieben Kollegen bei der systemischen Akne-Therapie mit strukturell ähnlichen Verbindungen Fälle von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Im nächsten Schritt suchen Forscher nach Strategien, die Prozesse zu kontrollieren. Hier sind Arzneimittel, die bei Autoimmunerkrankungen mit ähnlichen Mechanismen funktionieren, in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.
Eine ganz andere Strategie sieht vor, Getreideprodukte lebensmitteltechnologisch zu behandeln. Enzymatisch zerhacktes Gluten kann eben keinen Schaden mehr anrichten. Denkbar wären auch transgene Getreidesorten, die keine allergisierenden Kleberkomponenten synthetisieren. Und die Transglutaminase im Darm stellt eine weitere Zielstruktur für die Behandlung dar: Deren Hemmung könnte die Aktivierung von Gluten unterbinden.