Medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuell geborenen Kindern sollten Leitlinien zufolge nur noch die Ausnahme sein. Rein offiziell hat sich ein Umdenken in der Medizin ereignet. Doch die Operationen finden immer noch statt – womöglich nur unter anderem Namen.
Ist es ein Junge oder Mädchen? Bei intersexuell geborenen Kindern lässt sich diese Frage nicht so einfach beantworten. Schätzungen zufolge kommt etwa eines von 4.500 Babys mit einem uneindeutigen Geschlecht zur Welt. Dabei gibt es vielfältige Formen der Intersexualität. Mal weichen die inneren Geschlechtsorgane von den äußeren ab, mal vom chromosomalen Geschlecht. Es prägen sich Mischformen von Hoden und Eierstöcken aus, oder von Penis und Klitoris.
Medizinisch sind solche Variationen oft völlig unbedenklich. Trotzdem war es jahrzehntelang Standard, intersexuell geborene Kinder durch drastische chirurgische Eingriffe an ein Geschlecht anzupassen – etwa durch das Anlegen künstlicher Scheiden, Klitorisreduktionen, oder das Entfernen von Gonaden, oft ohne das Wissen der Betroffenen. Viele der heute Erwachsenen Intersexuellen beklagen als lebenslange Folgen solcher Eingriffe erhebliches körperliches und auch psychischen Leid. In einer aktuellen Kampagne stellt Amnesty International einzelne Schicksale Intersexueller aus Deutschland und Dänemark vor, um auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Weil Eltern sich unter Druck fühlten, ihr Kind einem Geschlecht zuzuordnen, werde tausendfach deren Persönlichkeitsrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt, beklagt Amnesty. Eltern sollten sich aber nicht an gesellschaftlichen Vorstellungen dazu orientieren, wie jemand auszusehen hat. Sondern eine informierte Entscheidung darüber treffen, was das beste für ihr Kind sei, fordert die Menschenrechtsorganisation. Intersexuellen-Verbände hingegen wollen ein Verbot rein kosmetischer Genital-Operationen an nicht einwilligungsfähigen Kindern erreichen, das zumindest bis zur Pubertät gelten soll. Satirebild "Phall-O-Meter"© Wellcome Images Tatsächlich sehen Leitlinien solche Eingriffe nur noch mit starken Einschränkungen vor. In der Praxis finden sie aber womöglich einfach unter anderem Deckmantel statt. Das zeigt eine vor wenigen Monaten veröffentlichte Untersuchung von Ulrike Klöppel vom Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität Berlin. Klöppel hatte Datenbestände der Krankenhausstatistik von 2005 bis 2014 ausgewertet. Sie wollte prüfen, ob es in Deutschland einen Rückgang kosmetischer Operationen uneindeutiger Genitalien bei Kindern gegeben hatte. Rein offiziell hatte sich im Untersuchungszeitraum ein Umdenken in der Medizin ereignet: Klöppel verweist auf Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, die seit 2007 zur Abwägung und Zurückhaltung bei rein kosmetischen Korrekturen rieten. Auch der Ethikrat hatte 2012 in einer Stellungnahme eindeutig zu starker Zurückhaltung bei solchen Operationen aufgerufen. „Irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung‟ bei Intersexuellen, deren Geschlechtszugehörigkeit nicht eindeutig sei, stufte dieser als „Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit‟, sowie der „Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität‟ ein. Bei „noch nicht selbst entscheidungsfähigen Betroffenen‟ sollten sie nur „nach umfassender Abwägung‟ erfolgen und „aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls.‟
In ihrer Untersuchung stellte Klöppel aber fest, dass es zwischen 2005 und 2014 noch genauso viele Genitaloperationen gegeben hatte wie vorher. Bei traditionellen Intersex-Diagnosen wurde zwar tatsächlich seltener operiert. Von den als weiblich registrierten Kindern mit Genitaloperationen hatten 2005 noch 165 eine Intersex-Diagnose, 2014 nur noch 100. Bei den männlich registrierten war die Zahl von 115 auf 70 gefallen. Dafür nahmen die Operationen bei Q52 Diagnosen (sonstige angeborene Fehlbildungen der weiblichen Genitalorgane) leicht zu, von 127 auf 140. Eine starke Zunahme der Eingriffe gab es bei den Diagnosen Q53-Q55 , die Fehlbildungen der männlichen Geschlechtsorgane umfassen, von 3.665 auf 4.188. „Die Daten verweisen auf einen Rückgang der relativen Häufigkeit 'klassischer' Intersex-Diagnosen bei gleichzeitiger Konstanz oder dem Anstieg anderer Diagnosen aus dem Spektrum der sogenannten 'Fehlbildungen' der männlichen oder weiblichen Genitalorgane ‟, sagt Klöppel. Es sei eine „naheliegende Frage‟ , ob ganz einfach eine „Umdeklaration‟ vorliegen könnte. Im Klartext: Womöglich würden bewusst weniger Intersex-Diagnosen gestellt, da Operationen in diesem Fall umstritten sind. Um die Eingriffe dann doch, aber unter anderem Vorzeichen durchzuführen.
Daher würde Klöppel die Eingriffe gerne generell verboten wissen. „Genitaloperationen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern die nicht medizinisch zwingend erforderlich sind, sollten meiner Meinung nach aus menschenrechtlichen Gründen untersagt werden, da sie einen schwerwiegenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen darstellen. Die neuesten medizinischen Leitlinien von 2016 nehmen diese Bedenken auf, aber da Leitlinien nicht verpflichtend befolgt werden müssen, bieten sie keinen rechtlich wirksamen Schutz für die Betroffenen.‟ Tatsächlich enthält die aktuelle Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU), der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) und der Deutschen Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) noch einmal schärfere Einschränkungen als zuvor. Darin heißt es: „Die Sorgeberechtigten können nur für solche Eingriffe beim nicht einwilligungsfähigen Kind einwilligen, die einer medizinischen Indikation unterliegen und nachfolgenden Schaden vom Kind abwenden.‟
Wie aber gehen Ärzte mit dem Dilemma um? Lutz Wünsch ist Direktor der Klinik für Kinderchirurgie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Genitaloperationen von Kindern werden dort bis heute durchgeführt. Die Entscheidung dafür oder dagegen würde aber keinesfalls leichtfertig gefällt, sagt Wünsch. Es sei ein „vom Team getragenes Vorgehen.‟ Psychologen, Kinderchirurgen und Hormonspezialisten sind mit einbezogen. „Am wichtigsten ist aus meiner Sicht nicht, wie eine Entscheidung schließlich ausfällt, sondern, ob eine Familie vorher gut beraten wurde.‟ Die Forderung, sämtliche medizinisch nicht notwendige Genitaloperationen an Kindern zu verbieten, findet er undifferenziert: „Im Vordergrund steht aber selbstverständlich immer die Frage, womit dem Kind am besten gedient ist.‟ Natürlich sei es am besten, wenn sich ein Intersexueller erst mit 16 selbst für oder gegen einen Eingriff entscheidet, und vielleicht schon zusammen mit dem ersten Partner in die Sprechstunde kommt. Wünsch und seine Kollegen operieren aber auch in anderen Fällen, in denen Eltern auf einer frühen Operation bestehen. „Für die persönliche Situation ist es schließlich auch wichtig, dass die Familie das Kind annehmen kann.‟ Wenn Eltern etwa über ein halbes Jahr lang persistierten, dann findet er auch Genitaloperationen an kleinen Kindern vertretbar, die medizinisch nicht notwendig sind. Das Problem der Autonomie gebe es in der Kinderchirurgie immer.
Ein Umdenken habe aber schon stattgefunden. Wünsch ist seit über zwanzig Jahre Kinderchirurg . „Wir machen vieles nicht mehr, was man früher gemacht hat – und was aus heutiger Sicht der Wissenschaft vielleicht erbärmlich ist. Das gilt ja für alle Bereich der Medizin.‟ Die Entfernung funktionierender Keimdrüsen sei vor der Einwilligungsfähigkeit nicht mehr üblich, ebenso wenig Plastiken, die das Einführen von Gegenständen, das Bougieren erfordern. „So etwas geht nur bei Einwilligungsfähigkeit, das macht man nicht mehr bei Kindern‟, sagt Wünsch. Auch in anderen Fällen sei man zurückhaltender geworden. „Wenn zum Beispiel durch eine Genitalfehlbildung eine Harnröhre auf der Penismitte mündet, wurde das früher als Notfall mit Handlungsbedarf gesehen. Man dachte, dass es den Eltern nicht zumutbar wäre, mit einer Operation noch ein wenig abzuwarten. Heute findet man, die müssen das auch mal schultern können.‟
Er wolle das Leid, das viele der heute erwachsenen Intersexuellen erfahren haben, nicht in Frage stellen. Dass die Mehrheit der Patienten, die nach den heutige Maßstäben behandelt werden, später unzufrieden sind, glaubt er aber nicht. Es sei eher so dass die Proteste einiger dagegen oft besonders laut ausfielen. „Das ist aber nun einmal ein Bereich, in dem es keine einfachen Lösungen gibt. Da wird es auch in Zukunft noch Diskrepanzen geben.‟ Er glaubt auch nicht, dass die Operationen umdeklariert werden. Klöppels Zahlen ließen sich womöglich einfach durch eine gewisse Unschärfe dabei erklären,wie Intersexualität definiert sei. In der Stellungnahme des Ethikrats sind Empfehlungen an Ärzte und medizinisches Personal lzusammengefasst: Demnach sollte durch deren Aus- und Fortbildung sichergestellt sein, dass sie Intersex-Diagnosen so schnell wie möglich erkennen – um sie in ein interdisziplinäres Kompetenzentrum zu überweisen. Nur dort sollten Beratung und Behandlungen erfolgen. Ebenso sollte durch die Aus- und Weiterbildung gewährleistet werden, dass ein „möglicherweise diskriminierender oder unsensibler Umgang mit Betroffenen in der ärztliche Versorgung vermieden wird.‟