Die Gier nach Nikotin: Viele Menschen leben davon, viele sterben daran. Trotz vieler Bemühungen ist die Prognose düster. Als viel versprechend gelten Impfstoffe; sogar „Cognitive Enhancers“ oder Antidementiva sind im Gespräch. Doch noch überwiegt das Prinzip Hoffnung.
Trotz Verboten, Werbeeinschränkungen und hohen Steuern blieben Zigaretten ein „tolles Geschäft“, meldete 2010 die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. 50 Prozent Gewinn vom Umsatz seien immer noch drin. Nur die Jugendlichen machten der Branche Sorge: Sie rauchen weniger. Dennoch strotze die Tabakindustrie vor Kraft. Auch der Staat kann sich freuen: Obgleich leicht gesunken, betrugen die Einnahmen aus der Tabaksteuer im vergangenen Jahr in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes immer noch 13,4 Milliarden Euro. Auf der anderen Seite der Medaille stehen direkte Kosten aufgrund des Tabakkonsums in Höhe von jährlich 17 bis 20 Milliarden Euro - und außer den zusätzlichen indirekten Kosten vor allem die medizinischen Folgen der Nikotin-Sucht.
Eine Milliarde Tote im 21. Jahrhundert?
Schwer besorgt ist daher unter anderen die Weltgesundheitsorganisation. Mehr als fünf Millionen Menschen werden nach ihrer Einschätzung in diesem Jahr an den Folgen ihres Tabakkonsums sterben. Rund acht Millionen Menschen würden es 2030 sein. Und während im 20. Jahrhundert etwa 100 Millionen Menschen an der Sucht-Erkrankung starben, könnte es in diesem Jahrhundert rund eine Milliarden Todesfälle geben.
In Deutschland rauchen nach Angaben von Privatdozent Dr. Nenad Vasic von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm „nach wie vor etwa 35 Prozent der Männer und etwa 25 Prozent der Frauen“. Ein eigenständiger Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören und nach einem Jahr abstinent zu bleiben, gelinge nicht einmal fünf Prozent. Mit Beratung und Verhaltenstherapie könne diese Zahl verdoppelt werden, durch Psychopharmaka zur Unterstützung sogar bis auf 25 Prozent gesteigert werden, schreibt Vasic in einer Übersichtsarbeit. Dies bedeutet allerdings auch, dass mindestens 75 Prozent der Abstinenz-Willigen langfristig scheitern. Die bisherigen pharmakologischen Optionen - Nikotin-Ersatztherapie (NET), Antidepressiva (einschließlich Bupropion) und auch Clonidin sind nicht erfolglos; die relativ geringen langfristigen Abstinenzraten lassen aber noch viel Spielraum nach oben. Als Hoffnungsträger gilt der Nikotinrezeptor-Partialagonist Vareniclin. Laut Vasic verdoppele er die Wahrscheinlichkeit der Abstinenz nach einem Jahr und ist dem Bupropion und der NET überlegen.
Unstreitige Wirksamkeit, umstrittene Sicherheit
Ähnlich wie Bupropion oder andere zentral wirksame Substanzen ist auch Vareniclin (Pfizer) nicht unumstritten, wobei es allerdings nicht um die Wirksamkeit geht. Immer wieder in der Diskussion sind ein möglicherweise erhöhtes kardiovaskuläres Risiko sowie Suizide und Suizidgedanken. Das Präparat stand sogar schon in Verdacht, gewalttätiges Verhalten zu fördern. 26 Kasuistiken dazu haben die US-Wissenschaftler gesammelt und in den „Annals of Pharmacotherapy“ publiziert. Das alles sind jedoch nur Kasuistiken ohne Beweiskraft. Für mehr Klarheit sorgen in der Regel wissenschaftliche Studien. Aber selbst große Studien einschließlich einer im April 2010 publizierten Metaanalyse und einer britischen Kohortenstudie („British Medical Journal“) haben Zweifel an der Sicherheit von Vareniclin für die Psyche nicht völlig beseitigen können. Entweder wird das Standardargument vorgebracht, Studienautoren seien nicht glaubwürdig, weil sie für Beratungsleistungen Honorare von Pfizer erhalten haben. Oder die Aussagekraft der Publikation wird als – methodisch bedingt – limitiert eingeschätzt. Als methodisch sogar unzureichend wurde zum Beispiel eine Studie zur kardiovaskulären Sicherheit kritisiert, die 2010 in „Circulation“ veröffentlicht wurde. Ergebnis war, dass Vareniclin nicht das kardiovaskuläre Risiko erhöhe. Die 12-wöchige Studie sei jedoch zu klein, die Dauer zu gering gewesen, um ein Risiko überhaupt erkennen zu können, meinte der US-Kardiologe und Assistenzprofessor Joseph S. Ross in einem Kommentar auf "CardioExchange", dem Kardiologen-Portal des „New England Journal of Medicine“.
Noch ganz am Anfang: Antidementiva
Im Gegensatz zu NET, Antidepressiva und Vareniclin steht das so genannte „cognitive enhancement“ mit Antidementiva wie Galantamin, Donepezil und Rivastigmin noch ganz am Anfang. Dieser Forschungsansatz beruht auf der Erkenntnis, dass Nikotin kognitive Funktionen bessert und so zum Suchtpotenzial beiträgt. Obwohl Untersuchungen zur Wirksamkeit bei der Nikotin-Abhängigkeit noch fehlen, erscheint laut Vasic „eine ähnliche Strategie der „kognitiven Verstärkung“ auch zur Unterstützung der Nikotinentwöhnung denkbar“.
Deutlich weiter: Spritzen gegen die Sucht
Noch nicht auf dem Markt, aber schon deutlich in der Forschung weiter sind Vakzine gegen die Nikotin-Abhängigkeit. Untersucht werden Impfstoffe übrigens auch gegen andere Sucht-Krankheiten, etwa gegen Kokain- sowie Heroin- und Alkohol-Sucht. Die Grundidee bestehe, so Vasic, darin, das Immunsystem durch nikotinhaltige Impfstoffe zu sensibilisieren und die Produktion von Antikörpern gegen Nikotin anzuregen, die Nikotin im Blut binden. Ein so gebildeter molekularer Komplex kann die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren, der Übertritt von Nikotin ins Gehirn sinkt laut Vasic um bis zu zwei Drittel. Dadurch würden sowohl die Ausschüttung von Dopamin als auch die vegetativen Symptome und das Nikotin-Verlangen („Craving“) reduziert.
Warten auf Phase-III-Daten
Am weitesten sind derzeit angeblich die Impfstoffe der Unternehmen Nabi Biopharmaceuticals in den USA, Cytos AG in der Schweiz und Celtic Pharma in Großbritannien. Die Nase klar vorne haben Nabi Biopharmaceuticals und GlaxoSmithKline, die vor zwei Jahren, wie DocCheck berichtet hat, einen Kooperationsvertrag geschlossen haben. Derzeit laufen zwei Placebo-kontrollierte Phase-III-Studien mit dem Nikotin-Konjugat-Impfstoff NicVAX®; die erste Studie wurde 2009 gestartet; bei der zweiten wurde vor wenigen Monaten die Patienten-Aufnahme abgeschlossen. Insgesamt nehmen rund 1000 Patienten teil. Endgültige Ergebnisse zur Abstinenzrate nach 12 Monaten sind für die zweite Hälfte dieses Jahres und 2012 angekündigt. Eine Phase-IIb-Studie hat nach Angaben von Nabi Abstinenzraten nach 12 Monaten von 18 Prozent unter der Vakzine im Vergleich zu sechs Prozent unter Placebo ergeben, wobei die Impfung insgesamt gut vertragen worden sei.
Cytos Biotechnology - Partner ist Novartis - hat hingegen im Oktober 2009 gemeldet, dass nach Zwischenergebnissen einer Phase-II-Studie mit dem Impfstoff NIC002 der primäre Endpunkt nicht erreicht wurde. Nur in einer Subgruppenanalyse einer zweiten Phase-II-Studie wurde eine signifikant bessere Abstinenzrate nach 12 Monaten unter dem Impfstoff im Vergleich zu Placebo erzielt. Phase-III-Daten liegen nicht vor. Auch zu dem Impfstoff TA-NIC vom britischen Unternehmen Celtic Pharma gibt es bislang keine Phase-III-Studie. Eine Phase-II-Studie wurde im Sommer 2009 beendet, aber noch nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht.
Summa summarum muss angesichts ausstehender Daten bei den Impfstoffen noch das Prinzip Hoffnung herrschen. Daher ist auch unklar, wie hoch die Kosten für eine Vakzine sein werden. Die Kosten der verfügbaren Optionen (NET, Nortriptylin, Bupropion und Vareniclin) belaufen sich auf etwa knapp zwei bis fast vier Euro pro Tag bei in der Regel sechs- bis 12-monatiger Therapie. Selbst wenn eine Impfung deutlich teurer sein sollte: So kostspielig wie jahrzehntelanger Tabakkonsum wird kaum eine Impfung sein - mal ganz zu schweigen von den gesundheitlichen Schäden durch die Sucht.