Mit rund 70.000 Neuerkrankungen pro Jahr gilt Dickdarmkrebs als eine der häufigsten Tumorleiden. Kaum bekannt ist hingegen die erbliche Form, familiäre adenomatöse Polyposis oder kurz FAP, mit etwa einem Krankheitsfall pro 10.000 Geburten.
Eine junge Frau, Anfang 20 und ohne Vorerkrankungen, klagt in der Praxis über häufige Durchfälle und Darmkrämpfe – ernst zu nehmende Symptome, die unter anderem auf eine familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) hindeuten können. Bei der Koloskopie fanden Kollegen in der Tat mehrere Polypen. Kein Wunder: Patienten haben bereits im frühen Stadium dieses Leidens etliche dieser Wucherungen im Dickdarm, 100 und mehr sind keine Seltenheit. Daraus entwickelt sich praktisch immer eine Krebserkrankung – die Frage ist nur, in welchem Alter. Mehrere Studien haben als Durchschnitt das 36. Lebensjahr ermittelt, starke Schwankungen nach unten und oben inklusive.
Übeltäter im Erbgut
Absichern lässt sich die Diagnose FAP durch eine humangenetische Untersuchung. Forscher fanden heraus, dass der Defekt auf dem Chromosom Nummer fünf liegt. Dort ist das Adenomatous Polyposis of the Column-Gen, kurz APC, lokalisiert. Liegt keine Mutation vor, bindet das zugehörige APC-Eiweiß an seinen Partner beta-Catechin und sorgt für dessen gezielte Entsorgung in der Zelle. Kann der Körper durch einen Defekt im Erbgut kein funktionsfähiges APC-Protein herstellen, so häuft sich beta-Catechin an – der fatale Mechanismus beginnt: Zellen werden unsterblich. Sie durchlaufen den Weg über ein Adenom hin zum Karzinom.
Auch in der Praxis ist die Genetik ein Thema: Zahlreiche FAP-Patienten kommen mit Fragen zur Familienplanung zu Kollegen. Die Vererbung des Gendefekts folgt einem autosomal-dominanten Muster – bereits eine beschädigte Kopie kann zum Ausbruch des Leidens führen. Rein statistisch wäre damit die Hälfte der Nachkommen betroffen. Hier könnte die in Deutschland rechtlich und ethisch umstrittene Präimplantationsdiagnostik helfen, trotzdem gesunde Kinder zu bekommen: Humangenetiker untersuchen dabei einen durch künstliche Befruchtung erzeugten Embryo, bevor dieser in die Gebärmutter eingepflanzt wird. Hier zu Lande erlaubt ist allerdings die Präfertilisationsdiagnostik, auch Polkörperdiagniostik genannt. Der Nachteil: Die Methode ermöglicht es nur, die genetischen Anlagen der Eizelle und damit der Mutter zu begutachten.
Die Vererbung ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Relativ häufig sind laut Prof. Christopher Poremba von der Uniklinik Düsseldorf Spontanmutationen – jeder dritte FAP-Patient hat in seiner Familie keine weiteren Krankheitsfälle. Kann die entsprechende Mutation nachgewiesen werden, sollte eine Koloskopie folgen.
Guter Rat wird befolgt
Tatsächlich folgen viele Patienten diesem Rat und lassen eine Darmspiegelung über sich ergehen, so das Resultat einer Studie der Universität Salt Lake City, Utah, USA. Die Gruppe um Dr. Anita Kinney befragte 150 Patienten, davon litten 71 an FAP. Rund 90 Prozent der Menschen, die sich zu einer Koloskopie entschlossen hatten, kamen mit einer entsprechenden Empfehlung der Kollegen. Diese sei, so die Erkenntnis, der ausschlaggebende Faktor gewesen, die als unangenehm empfundene Untersuchung über sich ergehen zu lassen.
Radikaler Eingriff
Doch wie geht es nach der Diagnose FAP weiter? Eine kleine Zahl an Polypen lässt sich zwar bei der Darmspiegelung bergen. Doch reicht bei klassischen Fällen diese kurative Koloskopie nicht aus. Chirurgen legen meist einen ileoanalen Pouch an – Goldstandard in der FAP-Therapie. Man entfernt dabei Enddarm und Dickdarm komplett. Anschließend wird der letzte Abschnitt des Dünndarms mit dem Anus verbunden und ein Reservoir angelegt.
Weist der Enddarm nur einzelne Polypen auf, ist auch die ileorektale Anastomose möglich, eine Verbindung des Dünndarms mit dem Enddarm. Hier entfallen Komplikationen wie Blasenentleerungsstörungen oder Impotenz als Folge von Nervenverletzungen im kleinen Becken. Allerdings bleibt das Risiko, dass es im Enddarm zur vermehrten Polypenbildung und später zur Krebsentstehung kommt. Hinsichtlich der Funktion unterscheiden sich beide OP-Verfahren kaum. Und der Behandlungserfolg ist laut dem Chirurgen Prof. James M. Church aus Cleveland, Ohio, durchaus vergleichbar.
Bei Kindern mit ileoanalem Pouch beispielsweise fanden britische Ärzte eine mittlere Frequenz von vier Stuhlgängen am Tag und null in der Nacht. Und 86 Prozent der kleinen Patienten waren mit dem Operationsergebnis zufrieden. Die ileorektale Anastomose liefere sogar noch bessere Resultate, so die Studienautoren.
Nach der OP ist vor der OP?
Aber auch nach der Operation ist eine engmaschige Kontrolle erforderlich. Nicht ausgeschlossen werden können beispielsweise Polypen im Magen bzw. Zwölffingerdarm. Und als Folge des Eingriffs entstehen bei einigen Patienten Desmoid-Tumoren, Geschwülste mit geringer Bösartigkeit. Hier greifen Chirurgen erneut zum Skalpell, aber nur, wenn sich der Tumor aufgrund seiner Lage und Größe vollständig entfernen lässt. Ansonsten besteht die Möglichkeit, chemotherapeutisch einzugreifen. Dabei hat sich in der Praxis die Kombination von Antiöstrogenen wie Tamoxifen mit dem nichtsteroidalen Antirheumatikum Sulindac bewährt. Da diese Substanz in Deutschland nicht verfügbar ist, muss trotz guter Studienlage oft auf Indometacin zurückgegriffen werden.
Norwegische Psychiater raten jedoch, das Augenmerk nicht allein auf die körperliche Ausprägung der Krankheit zu richten. In einer kleineren Studie der Uni Oslo erfüllten Kinder von FAP-Patienten in 36 Prozent der Fälle Kriterien einer seelischen Erkrankung.
Chemoprävention: immer noch schwierig
Vorbeugen wäre besser als Schneiden: Hoffnung keimte auf, als Forscher in Tumorzellen hohe Mengen des Stoffwechselenzyms Cyclooxygenase-2 (COX-2) fanden. Es regt über Zwischenstufen die Entstehung von Wachstumsfaktoren an und aktiviert die Bildung neuer Blutgefäße, die einen Tumor versorgen können. Damit lag nahe, dieses Enzym therapeutisch zu inaktivieren.
Mittlerweile ist die Euphorie verflogen – über die Frage der Chemoprävention bei der FAP streiten die Experten nach wie vor, und die Studienlage ist nicht immer überzeugend. Das geht auch aus einer aktuellen Metaanalyse der Universität von Sheffield, Großbritannien, hervor: Acetylsalicylsäure und Celecoxib können die Wahrscheinlichkeit, dass Adenome etwa nach einer OP erneut auftreten, verringern. In diese Gruppe gehört auch das mittlerweile intensiv untersuchte Sulindac. Befürworter der Therapie mit diesem Präparat versuchen, vor allem bei jungen Patienten, den Zeitpunkt einer OP hinauszuzögern – langfristig waren trotzdem in vielen Fällen Eingriffe erforderlich. Fachärzte aus Heidelberg hingegen warnen vor dem allzu offensiven Einsatz von Sulindac: Das Medikament hemmt zwar das Polypenwachstum, aber die Gewebeentartung kann trotzdem stattfinden und wird dann eher übersehen.
Eine Forschergruppe von Patrick Lynch an der Universität Texas nahm den Einsatz von Celecoxib bei Kindern unter die Lupe. In einer Kurzzeitstudie beobachteten die Wissenschaftler an 18 Kindern eine deutliche Verringerung der Polypenzahl. Das Präparat selbst schätzt Lynch als sicher und relativ gut verträglich ein. Nebenwirkungen bleiben trotzdem meist nicht aus und deshalb sei es wichtig, das Risiko-Nutzen-Verhältnis vor der Empfehlung kritisch abzuwägen. In Deutschland ist Celecoxib mittlerweile zur Behandlung von Patienten mit FAP zugelassen.
Rofecoxib hingegen, ein weiterer COX-2-Hemmer, wurde wegen schwerwiegender Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen: Eine Studie, die ursprünglich den Nutzen bei Patienten mit Polypen im Dickdarm belegen sollte, hatte eine fast doppelt so hohe Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen ergeben. Mittlerweile erlitten andere Präparate des gleichen Wirkmechanismuses ein ähnliches Schicksal. Aber auch der Einsatz von Acetylsalicylsäure hat wegen der Hemmung der Blutgerinnung einen drastischen Nachteil: Patienten ohne Vorerkrankung, die das Präparat zur Prophylaxe einnahmen, erlitten deutlich mehr kardiovaskuläre Ereignisse.
Gesundheit essen
Nahrungsergänzungsstoffe können vor dem Auftreten neuer Polypen schützen, etwa Calciumsalze. Das zeigte die Metaanalyse der Universität von Sheffield. Auch Eicosapentaensäure, eine ungesättigte Fettsäure aus fetten Seefischen, ist bei Forschern in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Gastroenterologen des britischen St. James' Hospital, Leeds, wiesen hier einen chemopräventiven Effekt nach. Dieser gleiche, so die Autoren, der Wirkung von COX-2-Inhibitoren, ohne dabei entsprechende Nebenwirkungen zu zeigen.
FAP: doch bald medikamentös heilbar?
Für Aufsehen sorgte kürzlich eine Arbeit der University of Texas in Houston: Zumindest bei Mäusen konnten Forscher Darmpolypen mittlerweile medikamentös entfernen. Das Team um Xiangwei Wu arbeitete dazu mit genetisch veränderten Nagern, denen das APC-Gen fehlte. Wie zu erwarten war, entwickelten die Tiere recht früh Darmpolypen und später Darmkrebs. Bekamen sie jedoch eine Vitamin A-Verbindung zusammen mit dem Tumornekrosefaktor TRAIL, löste sich der Großteil der Darmpolypen quasi in Luft auf. Zum Hintergrund: Vitamin A aktivierte die Bildung von so genannten „Todeszell-Bindungsstellen“ auf den entarteten Zellen. An diese dockte ein Tumornekrosefaktor an – und die Darmpolypen sind dem Untergang geweiht. Gesundes Gewebe hingegen bleibt intakt. Die Wissenschaftler sind sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Auch Zellen aus Biopsieproben von FAP-Patienten sprachen auf die Behandlung an – ein Silberstreif am Horizont.