Fast jede zweite Frau und jeder dritte Mann trägt das Risiko, im Alter dement zu werden. So der aktuelle Pflegereport der Barmer GEK. Die Zahlen sind alarmierend und werfen eine Menge Fragen auf in Richtung Diagnostik, Pflegebedürftigkeit, Pflegekosten und -reform.
Wissenschaftler vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, unter Leitung von Prof. Dr. Heinz Rothgang, haben für den neuesten Barmer-GEK Pflegereport die in 2009 verstorbene GEK-Population mit Demenzdiagnose ausgewertet. Danach waren 29 Prozent der Männer und 47 Prozent der Frauen von über 60 Jahren geistig verwirrt und 90 Prozent davon pflegebedürftig. Demenz ist eine Alterserkrankung. Das heißt, je älter ein Mensch wird, desto größer ist die Wahscheinlichkeit, dass er seine kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten verliert.
Die Bremer gehen von derzeit 1,2 Millionen Demenzkranken aus. Da der Anteil der älteren Bevölkerung wächst und gleichzeitig die Lebenserwartung zunimmt, muss mit einem Anstieg in den nächsten Jahrzehnten gerechnet werden. Gesundheitsökonomen erwarten bis 2030 einen Zuwachs auf 1,7 Millionen und bis 2050 eine Verdoppelung der Demenzkranken (65 Jahre und älter). Das entspräche 2,3 Millionen Menschen bei gleich bleibenden altersspezifischen Prävalenzraten.
Geistig fit im Alter
Deutlich geringere Anteile der Demenz-Risikogruppe weist das Bundesgesundheitsministerium (BGM) aus. In der im Auftrag des BGM erstellten Broschüre "Geistig fit im Alter" werden bei den Frauen 30 Prozent und bei den Männern 16 Prozent ab 65 Jahren, die mit kognitiven Einschränkungen rechnen müssen, genannt. Die Diskrepanz verdeutlicht die allgemeine Ohnmacht, das wirkliche Ausmaß der Demenz zu erfassen. Die Zahlen variieren, je nachdem, welche Prävalenzen oder Inzidenzen in den verschiedenen Studien zugrundegelegt werden. Das hängt auch damit zusammen, dass oftmals keine klare Diagnose gestellt werden kann, so Dr. Bernhard Holle, Leiter der Arbeitsgruppe Versorgungsstrukturen am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) in Witten. Weitestgehend unerforscht sei beispielsweise, wie Auffälligkeiten, die auf eine Demenz hindeuten könnten, in den Familien gehandhabt werden oder wie groß immer noch die Stigmatisierung ist. Das heißt, dass es schon im Frühstadium Grauzonen gibt, die statistisch schwer erfassbar sind.
Kritisiert wird seit Langem, dass die Pflegebedürftigkeit im SGB XI zu einseitig somatisch definiert sei. Demenzkranke sind in der Regel nicht körperlich, sondern kognitiv eingeschränkt. Und das verlangt einen anderen und wesentlich höheren Aufwand an Betreuung und Beaufsichtigung, als das allgemeinhin bei Pflegebedürftigen mit körperlichen Gebrechen der Fall ist. 2008 wurden im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz zwar zusätzliche Mittel für die Betreuung von Dementen genehmigt, aber das eigentliche Problem, die Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die entsprechende Anpassung der Pflegestufen, war damit nicht gelöst. Immerhin hatte Ulla Schmidt als Gesundheitsministerin einen Beirat mit der Überprüfung beauftragt. Der Bericht wurde Anfang 2009 vorgelegt und schmort seitdem vor sich hin. Ungeachtet dessen ist absehbar, dass die Pflegeleistungen für Demente ausgeweitet werden müssen. Bleibt die Frage, in welchem Umfang.
Gelbe Wurzeln gegen Vergesslichkeit?
Demenz, unabhängig davon, ob Alzheimer, vaskulär oder Kombinationen daraus, ist nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht heilbar. Die Ursachen der kognitiven Einschränkung gelten weitestgehend als ungeklärt. Bei Medikamenten, wie beispielsweise dem Gelbwurzextrakt Curcumin oder Entzündungshemmern wie Ibuprofen und dem Antidiabetikum Pioglitazon, wurde eine vorbeugende Wirkung beobachtet, was allerdings bisher nicht validiert ist. Pharmakologische Therapien können bestenfalls den Demenz-Prozess verzögern aber nicht aufhalten. Da in den letzten Jahren vehement nach den Ursachen geforscht wird – ein Indiz sind die zahlreichen Publikationen –, wird es irgendwann einmal Behandlungsmöglichkeiten geben. Aber das liegt in weiter Ferne und spielt erst einmal für die anstehende Pflegereform eine untergeordnete Rolle.
Die von Rösler angekündigte Pflegereform müßte auch die zunehmende Pflegebedürftigkeit von Demenzkranken berücksichtigen, wenn sie nicht nur Flickwerk sein will. Sein Ministerium muss letztendlich entscheiden, ob eine Zusatzversicherung wie die Riester-Rente oder die Anhebung der Pflegesätze erforderlich ist. Die bevorstehenden Bundesland-Wahlen sind nicht gerade geeignet, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Wir sind gespannt. "Ob und wie eine ergänzende Finanzierung des Pflegebedarfs zu realisieren sei, hänge im hohen Maße vom künftigen Pflegebedürftigkeitsbegriff ab", heißt es bei der Barmer GEK. "In der Pflegeversicherung verursachen Demente im Durchschnitt Kosten von 550 Euro, Nicht-Demente hingegen nur Kosten von 25 Euro".
Die direkten Krankheitskosten für Demenzkranke sind laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes von 2002 bis 2008 von 7,1 Mrd. Euro auf 9,4 Mrd. Euro gestiegen, was einer Steigerung von rund 32 Prozent entspricht. Wie sich dieser Kostenblock weiterentwickeln wird, dazu wollte auch Bernhard Holle nur bedingt Stellung nehmen: "Das läßt sich schwer darstellen, so lange Pflegebedürftigkeitsbegriff und darauf zugeschnittene Pflegestufen nicht festgelegt sind".