Frühchen bringen kaum Gewicht auf die Waage, verursachen aber immense Kosten. Wem Monate der Reifung im Mutterleib fehlen, der hat nicht nur ein hohes Sterberisiko, sondern lebt auch später oft mit einem Entwicklungs-Handikap. Deutschland liegt einer Studie zufolge nicht nur bei der Versorgung der empfindlichen Wesen weit hinter anderen europäischen Staaten, sondern auch bei der Prävention von Frühgeburten.
Sie wiegen oft nicht einmal ein halbes Kilo und sind die empfindlichsten Patienten, um die sich die Medizin kümmern muss. Bei ihnen vergehen nur fünf bis sechs Monate zwischen der Teilung der befruchteten Keimzelle und dem Start ins Leben ausserhalb der geschützten mütterlichen Entwicklungshöhle. Eigentlich wären mindestens drei Monate länger nötig, um nicht gleich nach der Geburt auf der Intensivstation zu landen. Und doch nimmt die Zahl der Frühgeburten immer mehr zu. Deutschland und sein Nachbar Österreich nehmen dabei im europäischen Vergleich einen Spitzenplatz ein. Das zumindest sagt ein Bericht der „European Foundation for the Care of Newborn Infants“ (EFCNI), der vor einigen Monaten erschien.
Nur zwei von drei überleben
Bei jeder elften Geburt in Deutschland kommt das Kind unreif zur Welt. Dabei lassen sich durch Aufklärung und Präventionsmaßnahmen viele dieser unerwünschten Ereignisse verhindern. Aber in Deutschland hapert es nicht nur bei der Früherkennung von Risikoschwangerschaften, sondern auch bei der Nachsorge: „In Deutschland benötigen wir dringend eine verbesserte psychosoziale Unterstützung der Eltern im Krankenhaus sowie ein strukturiertes und flächendeckendes Nachsorgeprogramm“, forderte Silke Mader von der EFCNI auf einer Pressekonferenz zum „Tag der Frühgeborenen“, am 17. November letzten Jahres. In der ZEIT beschreibt Anita Stacha, welche Konsequenzen die fehlende Zeit in der Gebärmutter haben kann: Operation wegen eines Leistenbruchs nach acht Wochen, Augenprobleme und Gehirnblutung. Danach ständige Überwachung der Atmung und mehrmalige Wiederbelebung, Lungenentzündung und Entwicklungsstörungen. Während die Sterblichkeit unter Neugeborenen bei rund drei von Tausend liegt, bewegt sie sich bei Frühchen vor der 26. Schwangerschaftswoche im Hundertfachen. Restriktives Kinderwunsch-Programm
Jedes Kind, das vor der 37. Woche - mehr als drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin - zur Welt kommt, ist ein Frühchen. Unter 13 europäischen Ländern schwankt die Rate beträchtlich. Im Vergleichsjahr 2004 betrug sie etwa in Schweden und Frankreich sechs Prozent, in Deutschland rund neun Prozent und in Österreich elf Prozent. Wer sich die Daten genau ansieht, dem fällt auf, dass die Häufigkeit in den Ländern am niedrigsten ist, die über strukturierte Programme zur Versorgung der Schwangeren verfügen. Schweden hat etwa einen breiten Zugang zur Schwangeren-Vorsorge geschaffen. Strenge Auflagen bei der Behandlung von Frauen mit bisher unerfülltem Kinderwunsch und zentralisierte Intensivstationen für Neugeborene sorgen für den Spitzenplatz in der Statistik.
Risiko-Frühchen in Zentren mit Erfahrung
Wie kommt es zur Frühgeburt? Etwa die Hälfte aller vorzeitigen Entbindungen gehen auf Infektionen der Scheide zurück. Daneben tragen aber auch Faktoren wie Rauchen, Stress, falsche Ernährung, das Alter der Schwangeren oder auch Fruchtbarkeitsbehandlungen mit häufigen Mehrlingsgeburten zum höheren Risiko bei. Für einen großen Teil des überraschenden Sprungs der Fruchtblase haben auch Experten keine Erklärung. Umso wichtiger erscheint es den Autoren des Reports, Risiken zu erkennen und in den Griff zu bekommen. Infektionen der Scheide zeigen sich etwa im pH-Wert am Eingang an, ein Parameter, der für die Frau leicht selbst zu messen ist. Dazu soll ein Beratungsgespräch mit der werdenden Mutter anleiten. Am besten zusammen mit einem Ernährungsberater, der über die Ernährungsbedürfnisse von Mutter und ungeborenem Kind aufklärt.
Seit etwa zehn Jahren versucht dies in Deutschland das Programm „BabyCare“. Dass ein solches Konzept die Frühgeburtenrate senkt, konnten Studien bereits zeigen, in die allgemeine Schwangeren-Vorsorge sind BabyCare oder ähnliche Modelle deswegen noch lange nicht integriert. Aber auch wenn der Winzling den Bauch der Mutter verlassen hat, gibt es gerade in Deutschland noch große Defizite - trotz der Reformen bei der Frühgeburten-Versorgung seit einem halben Jahr. Der Gemeinsame Bundesausschuss beschloss im Frühsommer, dass nur spezielle Geburtszentren mit einer Fallzahl von mindestens 30 pro Jahr Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm versorgen dürfen. „Die medizinische Betreuung von Frühgeborenen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die ein geeignetes stationäres Umfeld mit einer spezialisierten und gut ausgebildeten Belegschaft erfordert“, begründet Christian Poets von der Uniklinik in Tübingen die neuen Bestimmungen. Versorgungsempfehlungen bleiben in der Schublade
Dennoch bewegt sich nur langsam etwas bei der Fürsorge für ganz kleine Patienten und deren Angehörige in Deutschland. Erst seit Kurzem erstatten Kassen Nachsorgemaßnahmen wie etwa die psychische Betreuung von Eltern, langfristige Therapiemassnahmen für ihr Kind oder die Unterstützung für Geschwister. Je höher die Rate an Frühgeburten, desto mehr geht die Nachsorge ins Geld. Nach Schätzungen von BabyCare sind es etwa 500 Millionen Euro im Jahr in Deutschland, die Zusatzkosten gegenüber einer „normalen“ Geburt betragen ohne die langfristige Nachsorge allein schon 10.555 Euro.
Allzu viel Hoffnung, dass sich an der Situation schnell etwas ändert, gibt der Report nicht. Richtlinien für die Ärzte auf den Geburtsstationen gibt es: Etwa die von „NIDCAP“ (Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program), ein Konzept für die Frühversorgung. „Es gibt kein Krankenhaus, das nach den Richtlinien von NIDCAP arbeitet. Es fehlen dort die Kapazitäten zur Schulung des Personals und zur Umstellung der täglichen Abläufe“, schildert Silke Mader die Bedingungen in deutschen Geburtskliniken.
Weltweit sterben rund 450 neugeborene Kinder pro Stunde. In Europa etwa jedes hundertste. Die ersten Stunden nach der Geburt sind für Kinder unter fünf Jahren die riskantesten ihres Lebens. „Tausende von Todesfällen im Kindesalter, chronische Leiden und andere Beschwerden, die auf eine zu frühe Geburt zurückgehen, ließen sich durch eine verbesserte neonatale Prävention, Behandlung und Fürsorge vermeiden“, so schreiben die Autoren des Berichts „Too little, too late? - Why Europe should do more for preterm infants“. Das Thema ist zu wichtig, um im Aktenordner abgeheftet zu werden.
Das Thema wurde vorgeschlagen von unserem Leser Michael Kaiser.