Harte Kritik der Wissenschaftselite: Teile des deutschen Gendiagnostikgesetzes entsprächen nicht dem aktuellen Stand der Technologie und hätten negative Auswirkung auf anerkannte Vorsorgeuntersuchungen. Legt sich Deutschland selbst in den medizinischen Tiefschlaf?
Deutschlands medizinische Forschungselite glänzte bislang durch dezente Zurückhaltung, Scheppern gehörte nie zum Geschäft. Seit Kurzem aber ist Schluss mit der trügerischen Ruhe. Das Gesetz, das seit Februar 2010 in Kraft ist, sei dringend novellierungsbedürftig, teilten die Wissenschaftsakademien der Republik mit und wiesen auf Ergebnisse der Akademiengruppe „Prädiktive genetische Diagnostik als Instrument der Krankheitsprävention“ hin.
Tatsächlich dürfte das Papier aus der Feder der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften, der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften nicht nur Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) den Schweiß auf die Stirn treiben. Denn im Visier der Forscher stehen „sämtliche Aspekte genetischer Untersuchungen an gesunden Menschen zur Vorbeugung von Krankheiten und damit die medizinischen, ethischen, ökonomischen und rechtlichen Dimensionen der Thematik“. Und die Liste der Kritikpunkte hat es in sich.
Massive Probleme für den Praxisalltag
„Das Gesetz soll den Menschen schützen. Dafür muss es aber angemessene Antworten auf die Fragen der Praxis finden“, erklärt der Leiter der Akademiengruppe, Peter Propping, den Befund. So erweist sich dem Bericht zufolge das Neugeborenenscreening in der vorgesehenen Gesetzesform als inakzeptabel. Denn das neue Regelwerk definiere ein jahrzehntelang bewährtes Neugeborenenscreening als genetische Reihenuntersuchung. Was auf den ersten Blick wie eine reine Formalie klingt, hat gerade im medizinischen Alltagsbetrieb weitreichende Folgen. Laut Gesetz müssten die Eltern nämlich vor der Blutentnahme aus der Ferse ihres Kindes genetisch beraten werden, nur: Säuglingsschwestern oder Hebammen dürfen nicht beraten. Gerade bei Hausgeburten, bei denen normalerweise kein Arzt anwesend ist, erweist sich das Prozedere als nutzlose Vorgabe. „So mehren sich die Hinweise, dass etwa bei Hausgeburten die Blutabnahme und das Screening unterbleiben, obwohl das nicht dem Wunsch der Eltern entspricht“, monieren die Akademien. Weitaus dramatischer sind die medizinischen Aspekte. Denn auf Grund der angedachten Änderungen sei es nicht mehr in allen Fällen möglich, betroffenen Kindern eine Therapie anzubieten, „auch wenn diese dringend notwendig wäre“.
Ein Ausweg aus dem drohenden Dilemma ist rein theoretisch machbar. Säuglingsschwestern oder Hebammen müssten dazu die rechtliche Basis für Aufklärungsgespräche mit den Eltern erhalten. Wie wenig alltagstauglich der Paragraphendschungel sein könnte, demonstriert das Paper an einem anderen Beispiel. Wird etwa bei einer Untersuchung nachgewiesen, dass ein Patient mit einer behandelbaren genetischen Erkrankung, die autosomal dominant vererbt wird, die ursächliche Mutation besitzt, empfehlen ihm die Ärzte, seine Verwandten auf das Risiko einer möglichen Erkrankung hinzuweisen. Gerade bei erblichen Formen von Brust- oder Dickdarmkrebs eine sinnvolle Maßnahme. Die allerdings nicht wirklich greift.
„Ärzte haben aber keine Handhabe, zu prüfen, ob diese Informationen innerhalb der Familie erfolgen oder gar bewusst unterbleiben“, kritisieren nämlich die Autoren, und: „Das Gesetz sollte die Fürsorgepflicht des Arztes daher nicht grundsätzlich nachrangig behandeln“. Strittig scheint auch der Umgang mit der Datenspeicherung. Das Gesetz schreibt vor, dass der Arzt die Ergebnisse aus genetischen Untersuchungen zehn Jahre lang aufbewahren muss, danach werden die Daten vernichtet. Lediglich wenn der Patient eine längere Speicherung verlangt, bleiben die Informationen erhalten. „Diese Regelungen sind im medizinischen Alltag nicht durchführbar und generell nicht sachgerecht“, monieren jedoch die Wissenschaftsakademien. Tatsächlich lässt sich vor Ablauf der Frist kaum erkennen, welche Bedeutung der genetische Befund zu einem späteren Zeitpunkt haben könnte. Dass der Arzt für jeden Patienten nach zehn Jahren die Akte erneut durchforstet, sei „im medizinischen Alltag unmöglich“. Unmissverständliches Fazit der Studie an die Adresse der Politik: „Die Ergebnisse sollten daher wieder ohne konkrete Frist aufbewahrt werden dürfen“.
Paragraphen für die Katz'
Die Studie der Leopoldina kommt nicht wirklich überraschend. Schon der Gesetzentwurf der Bundesregierung war Gegenstand einer öffentlichen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags. Im Januar 2009 lagen den Abgeordneten mehr als 30 Stellungnahmen von Einzelsachverständigen und Verbänden vor, eine wissenschaftlich einheitliche Analyse wie die jetzige Studie der Akademien fehlte. Heute ist Klartext angesagt. In dem 110-Seiten starken Papier der Wissenschaftsakademien knüpfen sich die Experten die kritischen Paragraphen des Gesetzes einzeln vor. Für die Politik sind die Empfehlungen mitunter vernichtend, wie ein exemplarischer Auszug des Papers offenbart: „§ 15 Abs. 2 GenDG sollte wegen der unscharfen Definition des Erkrankungsalters gestrichen werden“