Wenn das IQWiG eine Pressemitteilung versendet, erfreut der Inhalt selten alle Leser. Ein häufig geäußerter Vorwurf lautet: Nicht Aufklärung der Bevölkerung, sondern Verunsicherung werde betrieben. Aktuelles Beispiel: eine Mitteilung zur Paukenröhrchen-Drainage.
Paukenröhrchen könnten das Hörvermögen nur kurzfristig verbessern, lautet die Überschrift der Mitteilung, die das „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ Anfang November veröffentlichte hat. Der Eingriff sei bei chronischer Mittelohrentzündung nicht immer nötig. Statt schon nach wenigen Monaten ein Röhrchen zu implantieren, könne auch abgewartet werden. Denn: „Nach einem guten halben Jahr hören Kinder mit und ohne Paukenröhrchen wieder nahezu gleich gut.“
Bisher sei auch nicht nachgewiesen worden, dass Paukenröhrchen die Sprachentwicklung positiv beeinflussten. Das Einsetzen eines Röhrchens erfordere jedoch meist eine Vollnarkose und gehe wie jede andere Operation mit gewissen Risiken einher. „Auf das Einsetzen eines Paukenröhrchens zu verzichten, ist eine Option, die sich ernsthaft zu prüfen lohnt", so IQWiG-Chef Professor Jürgen Windeler. Fließe die Flüssigkeit nicht ab, sei ein Trommelfellschnitt immer noch eine Option. Es sei zwar nicht ausgeschlossen, dass einige Kinder stärker von einem Paukenröhrchen profitieren als andere. Um besser bestimmen zu können, in welchen Fällen der kurzfristige Nutzen die Risiken eines Eingriffs rechtfertige, seien aber weitere Studien nötig. Begründet wurden die Aussagen mit Ergebnissen einer Studienanalyse britischer Experten der Cochrane Collaboration, einem internationalen Forschungsnetzwerk.
Heftige Kritik durch HNO-Ärzte
Bei anderen Experten stieß das Kölner Institut mit der Mitteilung nicht auf besonders positive Resonanz. Mit der Pressemitteilung habe sich das Institut selbst disqualifiziert, heißt es zum Beispiel in einem geschlossenen Ärzte-Forum. Dem IQWiG gehe es nicht um Aufklärung, sondern nur um Kostenreduktion; die heute eingesparten Brosamen für Paukenröhrchen bei Kindern seien das spätere üppige Brot der Ohr-Chirurgen sowie Hörgerätehersteller und Akustiker; die rechtzeitig gestellte Indikation zur Adenotomie mit Paukenröhrcheneinlage sei die sicherste Maßnahme, einem Cholesteatom, einem potenziell lebensbedrohlichen Tumor vorzubeugen. Werde gesagt, ein Röhrchen sollte erst nach dreimonatiger Paukenerguss-Dauer - vermutlich beidseits - gelegt werden, sei „das gegenüber dem in der Sprachentwicklung befindlichen Kind schlicht verantwortungslos“.
Recht deutlich fiel auch die Stellungnahme des Berufsverbandes der HNO-Ärzte und der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie aus, unterzeichnet von Dr. Jan Löhler, Direktor des Wissenschaftlichen Instituts für angewandte HNO-Heilkunde.
„Allein durch die plakative Überschrift der Pressemitteilung werden Eltern extrem verunsichert“, so Löhler im Gespräch mit DocCheck. Leider würden bestimmte Begriffe in der deutschen Übersetzung der englischen Publikation permanent vermischt und deswegen „gefährlich falsche Schlussfolgerungen gezogen“. Anders als im Englischen werde im Deutschen nicht von einer chronischen Entzündung (Otitis) gesprochen. Eine chronische Otitis media sei in Deutschland eine nicht heilende Trommelfellperforation mit und ohne Sekretion. Unter diesen Gesichtspunkten sei es sehr bedenklich, wenn das IQWiG die Begriffe Paukenerguss und chronische Mittelohrentzündung unpräzise gebrauche.
Außerdem: „In der englischen Originalarbeit wurde zum Beweis für eine etwaige Nutzlosigkeit von Paukenröhrchen bei einer „Otits media with effusion“ (OME) darauf hingewiesen, dass keine signifikanten Unterschiede im Hörvermögen von Kindern nach einem halben Jahr mehr zu finden gewesen seien. Dabei wird nicht angegeben, wie alt die untersuchten Kinder gewesen sind und wie die Hörtests durchgeführt worden sind.“ Jeder HNO-Arzt wisse jedoch, wie wenig aussagekräftig ein normaler Hörtest (Tonaudiogramm) bei Kindern dieses Alters sei. Zuverlässigere Informationen lieferten eine genaue Ohrinspektion und Messung des Mittelohrdruckes (Tympanometrie). Es werde jedoch sowohl im Original als auch in der IQWiG-Publikation allein auf die Tonaudiometrie verwiesen. Die fehlende Altersangabe zu den Kindern mache die Aussage der Publikation wissenschaftlich wertlos.
Zudem fehle in der IQWiG-Publikation der Hinweis des englischen Originals, dass Ergebnisse von Paukendrainagen hinsichtlich anderer Aspekte als des Hörvermögens für die langfristige Entwicklung von Kindern fehlten und keine Studie vorliege, die den Effekt von Paukendrainagen bei bestehenden Sprech-, Sprach-, Lern- und Entwicklungsstörungen untersucht habe. Diese Komplikationen würden jedoch nach deutscher HNO-Lehrmeinung mit einem zähen Paukenerguss in Verbindung gebracht. Durch den Artikel entstehe beim medizinischen Laien der Eindruck, Paukenröhrchen seien als Behandlungsoption bei Mittelohrproblemen generell fragwürdig. Selbstverständlich sei die Indikation stets kritisch zu stellen. Hinsichtlich der Entwicklung der beschriebenen Komplikationen wäre aber der Verzicht auf die Implantation ein ärztlicher Kunstfehler.
IQWiG fordert qualifizierte Studien
Das IQWiG wiederum, um eine Stellungnahme zur Stellungnahme gebeten, verweist zum einen auf die große Expertise der Cochrane-Autoren, zum anderen darauf, dass „auch im Deutschen die Begriffe chronischer Paukenerguss / Mukotympanon / chronisch seröse bzw. muköse Otitis media synonym oder überlappend gebraucht“ würden. Der vom Berufsverband und der Gesellschaft favorisierte Begriff „Mykotympanon“ tauche außerdem in der ICD-Nomenklatur gar nicht auf. Freuen würde man sich, „wenn die „deutsche HNO-Lehrmeinung“ mit qualifizierten Belegen unterfüttert würde. Für die Methoden-Kritik an der Cochrane-Analyse und den Primärstudien sehe man keinen Anhalt.
HNO-Ärzte: Hörtests bei Kleinkindern kaum aussagekräftig
Außer etwas Polemik habe diese Stellungnahme leider nicht viel zu bieten, meint Löhler. Brauche man etwa für die Frage, ob eine verbesserte Hörleistung das Sprachvermögen fördere, wirklich eine kontrollierte Studie? Besonders enttäuscht zeigte sich der HNO-Arzt darüber, dass das IQWiG auf die Hauptkritik nicht eingegangen sei – und zwar auf die mangelnde Aussagekraft von Hörtests bei Kindern im Vorschulalter. Löhler: „Da kann man auch fast würfeln, so wenig aussagekräftig sind solche Tests.“ Im Übrigen entspreche die Einstellung der deutschen Experten den US-Leitlinien von 2004. Dort heißt es:
„Die bevorzugte operative Maßnahme sei die Einlage eines Paukenröhrchens. Zu den „Kandidaten für einen operativen Eingriff gehören Kinder mit einer seit vier oder mehr Monaten anhaltenden „Otits media with effusion“ (OME) und persistierendem Hörverlust oder anderen Symptomen, Risiko-Kinder mit einer rezidivierenden oder persistierenden OME, unabhängig vom Hörstatus, sowie Kinder mit OME und Trommelfellschäden.“ Als Risiko-Kinder gelten Kinder, die zum Beispiel aufgrund von Fehlbildungen gefährdet sind, in ihrer Entwicklung noch weiter behindert zu werden.
Vor zwei Jahren hat auch der US-Spezialist für HNO-Erkankungen bei Kindern, Dr. Scott Schraff aus Phoenix in Arizona, die Indikationen zur Paukenröhrchen-Implantation in einem Fachzeitschriften-Beitrag zusammengefasst. Indiziert sei die OP
Angesichts einer unbefriedigenden Studienlage werde weltweit jedoch keine einheitliche Meinung vertreten, so Professor Hans-Wilhelm Pau, Direktor der HNO-Klinik der Universität von Rostock in einem Beitrag in der „Monatsschrift Kinderheilkunde“. Angesichts hoher Spontanheilungsraten sei jedoch zunächst „watchful waiting“ indiziert.
So oder so: Der Gang zum HNO-Arzt bleibt unumgänglich
Und was ist nun das Fazit der Kontroverse? Das IQWiG plädiert dafür, die Paukenröhrchen-OP sorgfältig zu überdenken, was eine Selbstverständlichkeit ist. Berufsverband und Gesellschaft sind für eine strenge Indikationsstellung, was ebenfalls eine Selbstverständlichkeit ist. Strittig ist möglicherweise nur, wann genau und bei welchem Kind ein Röhrchen gelegt werden sollte. Das aber ist eh eine Einzelfallentscheidung, die der behandelnde Arzt in Abwägung vieler Faktoren und im Gespräch mit den Eltern treffen muss. Ob da eine simplifizierende Information wie die des Kölner Instituts aufklärt oder verunsichert, können allein die „Adressaten“ der Mitteilung, also die Eltern, selbst sicher sagen. Der Gang zum Spezialisten wird, wenn ein Kind Probleme mit den Ohren hat, so oder so nötig sein. Zumindest darüber dürfte großer Konsens bestehen.