Lange Gesichter gab es bei den Interessenvertretern der Apothekerschaft und des Großhandels, als das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz am 11. November den Bundestag passierte. Ein elitäres Problem einzelner Berufsgruppen? Sicher nicht, steht doch langfristig die Zukunft eines Eckpfeilers des Gesundheitssystems auf dem Spiel.
Gleich nach der Abstimmung meldete sich Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler euphorisch zu Wort: „Mit dem Reformgesetz machen wir den Weg frei für fairen Wettbewerb und eine stärkere Orientierung am Wohl der Patienten. Wir schaffen eine neue Balance zwischen Innovation und Bezahlbarkeit von Medikamenten. Zusatznutzen und Wettbewerb bestimmen künftig den Preis“. Wirklich ein Reformgesetz? In der Tat lohnt ein Blick auf die eigentliche Bedeutung dieses Begriffs. „Reform bezeichnet in der Politik eine größere, planvolle und gewaltlose Umgestaltung bestehender Verhältnisse und Systeme“, heißt es dazu bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Dieses hehre Ziel mag beim AMNOG nur schwer erkennbar sein, werden doch vor allem die Apotheken zur Kasse gebeten, und das nicht zum ersten Mal.
Reformvorhaben oder Klientelpolitik?
In der jetzigen Form ist das bundesdeutsche Gesundheitssystem nicht überlebensfähig, das steht außer Frage. Rösler kämpft derzeit mit einem Defizit von etwa neun Milliarden Euro. Warum allerdings gerade die Apotheken in der Schusslinie sind, mag erstaunen. In Zahlen: Die gesetzlichen Krankenkassen gaben im vergangenen Jahr rund 32 Milliarden Euro für Arzneimittel aus, Tendenz steigend. Gerade mal 2,5 Prozent dieser Summe gehen dabei auf das Konto der Apotheken – die Verwaltungskosten der Versicherer sind etwa doppelt so hoch einzuordnen.
Auch die Lockerung der Wartezeit bei einem Wechsel von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung wird zu Verlusten in Höhe von etwa 300 Millionen Euro führen. Durch die Aufhebung der so genannten Drei-Jahres-Regel können nämlich ab 2011 rund 40.000 Versicherte zusätzlich zu privaten Versicherern wechseln. Zieht man die verringerten Ausgaben der GKVen ab, bleiben immer noch 200 Millionen Euro rechnerischer Verlust.
So wird klar, warum Heinz-Günther Wolf, der Präsident der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, konstatiert: „Die Regierung schüttet bei anderen Leistungserbringern das Füllhorn aus. Apotheker und Patienten zahlen die Zeche“. Der Raubbau an den Apotheken und ihren Mitarbeitern werde zum Gesetz. Die Koalition aus Union und FDP nehme tausenden Apotheken die Luft zum Atmen, so Wolf weiter, und bedrohe anscheinend bewusst die hochwertige flächendeckende Arzneimittelversorgung in Deutschland.
Das Netz wird löchrig
Bricht die pharmazeutische Versorgung zusammen, hat das Gesundheitssystem in den nächsten Jahren dicke Probleme: In einer Gesellschaft, deren Mitglieder immer älter werden, ist gerade die wohnortnahe Apotheke wichtig, und zwar nicht nur bei Arzneimitteln. Viele chronisch kranke Patienten könnten diese als Partner in strukturierten Behandlungsprogrammen aufsuchen, so der Plan. Dort laufen künftig alle Fäden der Arzneimitteltherapie im Rahmen der pharmazeutischen Versorgung zusammen. Auch im Pandemiefall, glücklicherweise noch nicht eingetreten, sichert ein Netz, das noch mehr oder minder engmaschig das ganze Land umspannt, die rasche Versorgung der Bevölkerung. Eine Forderung lautet also: Apotheken sollen künftig noch mehr leisten. Es muss allen Beteiligten dann aber auch klar sein, dass dies auch finanziell zu honorieren ist.
Neues Jahr, neue Sorgen
In wenigen Wochen greifen die AMNOG-Änderungen. Bald werden Apotheken allein durch die Anhebung des Zwangsrabatts an die Krankenkassen sage und schreibe 200 Millionen Euro pro Jahr verlieren. Bei einem durchschnittlichen Umsatz fehlen pro Chefin oder Chef rund 7.500 Euro an Rohertrag, so ein Rechenmodell. Der Großhandel wird ebenfalls 200 Millionen Euro in Form eines preisabhängigen Anteils abdrücken müssen. Das Fatale daran: Einige Firmen haben bereits klar gestellt, diese Summen zumindest teilweise der Apothekenbranche aufs Auge zu drücken. Laut Aussage des Bundesverbands des pharmazeutischen Großhandels (Phagro) etwa muss mit Leistungseinschränkungen gerechnet werden. Im Klartext fallen bald nicht nur Rabatte unter den Tisch. Denkbar wären auch Versandpauschalen, eine seltenere Belieferung oder ungünstigere Zahlungsziele aus Apothekensicht.
Innovative Arzneimittel – kreative Preisvorstellungen?
Die Preisgestaltung für neue, innovative Arzneimittel stieß im Ausland schon immer auf Verwunderung – konnten die Firmen bis dato selbst einen Obolus festlegen. „Der Preis für ein Medikament hat nichts mit den Produktions- und Entwicklungskosten zu tun“, so der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Büser, Herausgeber des Arznei-Telegramms. „Die Hersteller verlangen, was der Markt hergibt“. Bereits Anfang des Jahres hatte der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, Änderungen angemahnt: „Wenn es nicht gelingt, mit der Arzneimittelindustrie eine Vereinbarung über wesentlich niedrigere Arzneimittelpreise zu schließen, dann brauchen wir eine gesetzliche Lösung“. Diese ist mit dem AMNOG zwar in Form von Zwangsrabatten gekommen. Am Nährwert der Regelungen haben aber Experten wie Prof. Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen so ihre Zweifel. Das neue Procedere: Auf Basis von Zulassungsstudien kann eine Firma mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss den späteren Preis aushandeln. Glaeske: „Dieses Verfahren ist nicht rational, weil es in Wirklichkeit keine Kosten-Nutzen-Bewertung ist, sondern eine vorgezogene, auf Basis von unsicheren Daten entwickelte Kostenschätzung“. Ein Fazit des Wissenschaftlers: „Die kostendämpfenden Maßnahmen tun der pharmazeutischen Industrie sicher weh. Aber über allen anderen Regelungen des AMNOG sehe ich den großen Schatten des Lobbyismus der pharmazeutischen Hersteller“.
Wo ließe sich sinnvoll sparen?
Niemand kann die genauen Folgen des AMNOG voraussagen. Allerdings haben viele Apotheken, meist Klein- und Kleinstbetriebe, mittlerweile die Existenzgrundlage unterschritten. Als unternehmerische Entscheidungen bleiben theoretisch nur noch die Ankurbelung der Zusatzverkäufe – unwahrscheinlich und heilberuflich oft nicht moralisch, die betriebsbedingte Kündigung von Angestellten – ebenfalls unmoralisch und unsinnig, denn die Arbeit an sich wird nicht weniger, oder eben die Schließung der Apotheke. Zumindest ließen sich durch die Bildung von Einkaufsverbünden bessere Konditionen beim Großhandel herausschlagen.
Bereits jetzt machen sich erste Folgen bemerkbar, sicher nicht allein durch das AMNOG-Sparpaket, sondern auch durch zahlreiche Vorgängerreformen. Eine Umfrage der Apothekengewerkschaft ADEXA ergab, dass sich bei Angestellten in großem Umfang Überstunden anhäufen. Rund 42 Prozent gaben an, regelmäßig Mehrarbeit zu leisten, und 55 Prozent mussten gelegentlich aufstocken. Barbara Neusetzer, Erste Vorsitzende von ADEXA: „Überstunden sind an sich dazu gedacht, flexibel auf nicht im Voraus kalkulierbare betriebliche Erfordernisse reagieren zu können“. Es sei nicht Sinn und Zweck der Sache, dadurch Mitarbeiter einzusparen.
Perspektive: zwei Jahre warten
Aus Sicht der Apothekenbranche gäbe es weitaus bessere Lösungsansätze als das AMNOG: Allein durch eine Absenkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 auf 16,5 Prozent könnten die Kassen um 600 Millionen Euro im Jahr entlastet werden. Dabei ist diese Forderung im europaweiten Vergleich recht harmlos – fast alle anderen Länder wenden einen verminderten Satz an. Der Durchschnittswert liegt Untersuchungen zufolge bei etwa zehn Prozent. Nicht nur aus Apothekenkreisen kommen entsprechende Forderungen. In ihrem Jahresgutachten empfiehlt auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, besser bekannt als „Wirtschaftsweise“, entsprechende Maßnahmen allein schon unter dem Aspekt der steuerlichen Vereinfachung. Doch momentan scheint Abwarten die einzige Perspektive zu sein: Erst ab 2013 kann der Apothekenrabatt zwischen dem Deutschen Apothekerverband und dem Spitzenverband der GKV wieder angepasst werden.
Lesen Sie hier den 1. Teil und den 2. Teil der DocCheck AMNOG-Serie.