Seitdem Orthopäden Kunstgelenke implantieren, träumen sie von maßgeschneiderten Prothesen, seit Jahren auch vom Prothesen-Register. Ausgeträumt hat sich wohl die Vorstellung, mit einer geschlechtsspezifischen Prothese, dem „Frauen-Knie“, Gutes zu tun. Oder?
Das Problem ist bekannt: Deutschland ist Spitzenreiter in Europa bei der Zahl der implantierten künstlichen Hüft- und Kniegelenke. Fast 400.000 solcher Eingriffe pro Jahr zählt die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) – mit steigender Tendenz seit einigen Jahren. Die wachsenden Operationszahlen lassen sich nicht allein durch die demografische Entwicklung erklären. Korrigiere man die Werte um den Altersanstieg, sei die Versorgung mit künstlichen Hüftgelenken seit 2003 um neun Prozent gestiegen, mit künstlichen Kniegelenken um 43 Prozent, hieß es kürzlich in der „FAZ“. Einen Spitzenplatz habe Deutschland auch bei den Revisions-Operationen. Fast jedes sechste künstliche Knie müsse vorzeitig ausgetauscht werden.
„Die Anzahl der Knieendoprothesen-Implantationen wächst jährlich um etwa 6,8 Prozent. Bei einer Knieendoprothesen-Standzeit von derzeit etwa 12–15 Jahren steigt deshalb die Anzahl von Revisionsoperationen in der Knieendoprothetik kontinuierlich“, schreiben die Mannheimer Orthopäden Professor Hanns-Peter Scharf und Dr. Astrid Schulze in einem aktuellen Beitrag zum „Endoprothesenwechsel am Kniegelenk“.
Eine alte Diskussion: Über-, Unter- oder Fehlversorgung
Ein Grund für die steigende Zahl der Wechsel-Operationen sei außer der Zunahme an Primär-Implantationen auch die noch immer nicht optimale Qualitätskontrolle, sagte Professor Karsten Dreinhöfer vom Medical Park Berlin Humboldtmühle im Gespräch mit DocCheck. Er teile allerdings nicht die Ansicht, dass es heute eine Überversorgung mit Endoprothesen gebe. Dreinhöfer: „Möglicherweise hatten wir früher eine Unterversorgung und nähern uns inzwischen nur langsam einem vernünftigen Versorgungslevel. Ich glaube, dass wir in der Vergangenheit viele Patienten nicht adäquat versorgt haben“. Heute dagegen würden wohl manche Patienten zu früh operiert. „Und möglicherweise werden auch immer wieder mal die falschen Patienten operiert.“ Er glaube aber, sagt Dreinhöfer, dass es noch immer eine „Menge Patienten gibt, die von einer Prothese profitieren würden, aber eben nicht operiert werden“.
Das Register: wichtig, aber auch nicht das „Ei des Kolumbus“
Unabhängig davon, ob Über-, Unter- oder Fehlvorsorgung herrscht: Die Kosten sind enorm: Fast 8000 Euro kostet die Implantation eines künstlichen Hüftgelenks - hochgerechnet auf alle Hüftimplantate im Jahr seien das etwa 1,5 Milliarden Euro. Zähle man noch die Kosten für sämtliche Knie-Implantationen hinzu, komme rasch ein Betrag von 3,5 Milliarden und mehr Euro zusammen, heißt es in dem Bericht der „FAZ“ weiter. Abhilfe soll bekanntlich das seit Jahren diskutierte „Endoprothesen-Register“ liefern. In Schweden etwa sei durch ein solches Register die Revisionsrate „um etwa die Hälfte reduziert worden", wird Professor Joachim Hassenpflug vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, zitiert. Allerdings werde auch ein solches Register nicht das Grundproblem lösen, dass es keine einheitlichen Kriterien zur Indikationsstellung gebe, schränkt der Orthopäde und Unfallchirurg Dreinhöfer ein. Ein Endoprothesen-Register sei sicher gut, um Fehlentwicklungen bei den Implantaten zu erkennen; es sage aber nichts über die Kriterien zur Implantation aus – ganz zu schweigen mal von einer Überprüfung der jeweiligen Indikationsstellung.
Der alte Traum: die individuelle Maßprothese
Noch länger als auf ein Register – eigentlich seit Beginn der Endoprothetik – träumen Orthopäden wie Unfallchirurgen davon, Prothesen maßschneidern zu können, so dass jedem Patienten eine 100-prozentig passgenaue Prothese implantiert werden kann. Modulare Systeme, auch die computergestützte Navigation, inzwischen ein Standardverfahren in der Kniegelenks-Endoprothetik, gelten da unstreitig als große Fortschritte. Skepsis herrscht dagegen bei einer Prothesen-Art, die vor wenigen Jahren präsentiert wurde und sehr viel Aufmerksamkeit, auch in den Medien, erregte. Die Rede ist von einer Kniegelenks-Prothese speziell für Frauen. Vom Frauen-Knie war in den Publikums-Medien die Rede, von „gender specific implants“ sprechen die Wissenschaftler, als „Gender Solutions Knie“ bezeichnet sein Implantat der Hersteller Zimmer.
Das Frauen-Knie: Viel Marketing, wenig Wissenschaft?
Dieses „Gender Solutions Knie“ fuße auf 30-jähriger Erfahrung mit dem totalen Kniegelenkersatz, heißt es auf der Webseite des Implantat-Herstellers. „Die mehr an der weiblichen Anatomie orientierten Komponenten zeichnen sich durch drei Merkmale aus: Sie sind schmaler und dünner als die eher „männlichen“ Standardkomponenten des jeweiligen Zimmer Kniesystems und haben eine andere Führungslinie für die Kniescheibe. Das bewirkt eine bessere Passform, einen geringeren Anpressdruck und ein optimiertes Gleitverhalten der Kniescheibe.“ Der Operateur könne, so heißt es weiter, „seine Patienten gezielter und individueller versorgen“. Deutlich kritischer sahen und sehen dies jedoch unter anderen die Spezialisten der Endoportal eG, einem Zusammenschluss von Fachärzten in Berlin: „Die Sache mit dem so genannten Frauen-Knie (Gender)“ sei ein „(zugegeben gelungenes) Marketingtool einer großen Prothesenfirma. Die meisten Frauen brauchen kein spezielles Frauenknie, genauso wenig wie die Männer ein gesondertes Männerknie brauchen“.
Dreinhöfer ist ebenfalls skeptisch: Nach seinem Kenntnisstand gebe es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass eine Frauen-spezifische Prothese tatsächlich einen klinisch relevanten Vorteil bringe. Der selben Meinung ist auch der Schweizer Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Dr. Rolf F. Oetiker: „Ob das Frauen-Knie wirklich klinisch von Vorteil ist, ist derzeit wissenschaftlich nicht belegt.“ Bekräftigt wird die Aussage der Kritiker nun auch durch eine klinische Studie, die im August im renommierten „Journal of Bone and Joint Surgery“ (US-Ausgabe) erschienen ist: Die Überlegenheit einer geschlechtsspezifischen Prothese im Vergleich zu einer konventionellen Prothese habe nicht belegt werden können, so die Autoren der Studie.
Mit ein Grund für die wenig überzeugenden klinischen Ergebnisse mit einer geschlechtsspezifischen Knieprothese, ist womöglich die Tatsache, dass die Anatomie des Kniegelenks eben nicht allein vom Geschlecht abhängt. Auch der allgemeine Körperbau, ob eher klein und rundlich, untersetzt und muskulös oder schlank und rank, beeinflusse die Anatomie, haben belgische Orthopäden um Dr. Johan Bellemans von der Universität von Leuven herausgefunden.
Beworben werden geschlechtsspezifische Prothesen von Herstellern wie auch Kliniken allerdings weiterhin. So ganz ausgeträumt hat sich die Vorstellung, damit Gutes zu tun, offensichtlich doch noch nicht.