Beim Cushing-Syndrom leiden Betroffene z.B. an Bluthochdruck oder Fettanlagerungen. Auslöser sind Tumore der Nebennierenrinde bzw. der Hirnanhangsdrüse – oder zu hoch dosierte Kortikoide. Unbehandelt kann die Erkrankung zum Tode führen.
Wo ist nur die frühere Leistungsfähigkeit geblieben? Ein knapp 30-jähriger Sportstudent klagt in der Sprechstunde über Müdigkeit und Muskelschwäche. Außerdem erlitt er in den letzten Monaten mehrere kleine Frakturen. Bei der Untersuchung entdecken Kollegen eine verminderte Knochendichte, einen erhöhten Blutdruck und Stammfettsucht inklusive der damit verbundenen roten Striemen am Bauch: zahlreiche Hinweise auf Morbus Cushing. Bereits vor mehr als 100 Jahren beschrieb der US-amerikanische Neurochirurg Harvey Cushing (1869 bis 1939) dieses später nach ihm benannte Krankheitsbild.
Allein die Dosis macht das Gift
Ein lebenswichtiges Hormon: In physiologischem Maße übernimmt Kortisol Aufgaben rund um Energiehaushalt, Stoffwechsel, Blutdruck und Immunsystem. Über komplexe Regelkreise steuert die Hirnanhangdrüse dessen Freisetzung aus der Nebennierenrinde. Auch den Tag-Nacht-Rhythmus kontrolliert das Kortisol: Sein Spiegel im Blut unterliegt innerhalb von 24 Stunden typischen Schwankungen – morgens kurz nach dem Aufwachen wird das Maximum erreicht, und mehrmals pro Tag gibt es eine weitere Dosis. Nachts sinkt der Wert stark ab. Eine überschießende Kortisolproduktion kann mehrerer Gründe haben: Störungen im Hypothalamus, einer Zwischenhirnregion, oder ein Tumor der Hirnanhangdrüse führen zur vermehrten Synthese des Botenstoffs ACTH. Darauf reagiert die Nebennierenrinde mit einer überbordenden Kortisolfreisetzung. Ähnliche Effekte beobachten Fachärzte bei Geschwülsten direkt an der Nebennierenrinde. Auch kleinzellige Bronchialkarzinome oder Karzinome der Bauchspeicheldrüse können regulatorische Hormone herstellen, welche den Kortisolspiegel absteigen lassen.
Schwellenangst bei der Kortikoidtherapie
Die häufigste Ursache des Cushing-Syndroms ist allerdings pharmakologischer Natur. Patienten mit entzündlichen Erkrankungsprozessen werden oft mit Kortikosteroiden behandelt. Nehmen sie in Dauertherapie mehr als 7,5 mg Prednison-Äquivalent pro Tag ein, kommt es zu Cushing-artigen Symptomen. Manche Fachleute setzen die Schwelle noch tiefer an. So betont der Rheumatologe Prof. Ulf Müller-Ladner von der Justus-Liebig Universität Gießen, man wisse heute, dass unerwünschte Wirkungen besser mit 5 mg pro Tag vermieden werden könnten. Anwendungen auf der Haut gelten als vergleichsweise unkritisch, es sei denn, auf mehr als 20 Prozent der Oberfläche landen Kortikoid-Präparate.
Patienten, die am Cushing-Syndrom leiden, klagen meist über verringerte körperliche Leistungsfähigkeit in Kombination mit Muskelschwäche. Hinzu kommen Stimmungsschwankungen bis hin zur Depression. Außerdem lagert sich im Gewebe Wasser ein, schnell erkennbar am typischen Vollmondgesicht. Auch der Blutdruck ist meist erhöht. Und die starke Einlagerung von Körperfett führt am Bauch zu typischen Dehnungsstreifen bzw. an den hinteren Halsregionen zum Stiernacken. Warum sich in vielen Fällen eine Fettleber entwickelt, konnten Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg entschlüsseln. Sie blockierten bei Mäusen die Andockstelle des Kortisols in der Leber. Daraufhin sank der Triglyceridspiegel, weil über einen zentralen Regelmechanismus Fett abbauende Enzyme aktiviert wurden. Ein Überangebot von Kortikoiden hatte genau den entgegengesetzten Effekt.
Kortisol bzw. Kortikosteroide stören die insulingesteuerte Freisetzung von Glukose aus der Leber und vermindern den Glukoseverbrauch in Muskelzellen. Insulin selbst dockt speziell an einem Membraneiweiß an – auch diesen Vorgang bringen Kortikosteroide aus dem Takt. Ein entsprechend hoher Blutzucker ist die Folge. Ein weiteres Charakteristikum: Die eingehende Untersuchung von Cushing-Patienten bringt oft eine Osteoporose an den Tag. Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Altersforschung – Fritz-Lipmann-Institut fanden den Grund: Vor allem der Knochenaufbau wird in Mitleidenschaft gezogen, nicht aber der Abbau von Knochensubstanz, wie früher angenommen. Für die Praxis rät der Dachverband Osteologie in seiner aktuellen Richtlinie, beim Morbus Cushing unabhängig von Alter und Geschlecht regelmäßig eine Osteoporose-Basisdiagnostik durchzuführen.
Cushing oder Adipositas, das ist hier die Frage
Viele dieser phänotypischen Ausprägungen sind nicht besonders charakteristisch für eine bestimmte Grunderkrankung. Forscher der Cerrahpasa Medical Faculty aus Sivas, Türkei, gingen deshalb der Frage nach, bei wie vielen übergewichtigen Menschen das Cushing-Syndrom einfach übersehen wird. Dazu untersuchten sie 150 adipöse Patienten. In der Tat fanden sie in knapp zehn Prozent der Fälle das entsprechende Krankheitsbild. Ihr Fazit: Mondgesicht, Hypertonie und hoher Blutzucker werden oftmals nur mit dem Körpergewicht in Verbindung gebracht. Deshalb raten Fachärzte des Medical College of Wisconsin, USA, in einer aktuellen Arbeit zur Durchführung mehrerer Untersuchungen.
Erste Hinweise bringt die Bestimmung des Kortisolgehalts einer Speichelprobe, die Patienten um Mitternacht nehmen müssen. Zu erwarten wäre aufgrund des Biorhythmus ein entsprechend niedriger Hormonspiegel – Abweichungen gelten als Anzeichen möglicher Fehlfunktionen. Auch eine Bestimmung des Kortisols im gesammelten 24-Stunden-Urin gibt Anhaltspunkte. Sollten die Werte auffällig sein, bringt der Dexamethason-Kurztest Klarheit. Endokrinologen verabreichen dieses künstliche Kortikoid – Einnahme gegen Mitternacht – und bestimmen am nächsten Morgen die Kortisol-Konzentration im Plasma. Bei intakten Regelkreisen fährt der Körper die Produktion dieses Hormons zurück. Der genauere Langtest geht über mehrere Tage mit täglich höher dosierter Applikation. Fällt in beiden Fällen die Kortisol-Synthese nicht ab, ist ein Tumor der Nebennierenrinde oder Hirnanhangsdrüse wahrscheinlich. Weitere Untersuchungen und bildgebende Verfahren schließen sich an.
Therapie: Stahl und Strahl
Unbehandelt kann das Cushing-Syndrom mittelfristig schwerwiegende Folgen bis hin zum Tod haben. Hier sind vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu nennen. Sind kortikoidhaltige Arzneimittel als Auslöser identifiziert, so gilt es, die Therapie kritisch zu überdenken und nach Möglichkeit die Dosis zu verringern. Tumore der Hirnanhangsdrüse, häufige Cushing-Auslöser, lassen sich heute in einem minimal invasiven neurochirurgischen Verfahren durch die Keilbeinhöhle entfernen. Bei hohem Operationsrisiko bestrahlen Radiologen die gepeinigte Hirnanhangsdrüse ohne vorherigen Eingriff. Der Erfolg lässt dann aber aufgrund der relativen Unempfindlichkeit des Organs länger auf sich warten. Auch Neoplasien der Nebennierenrinde sind eine Sache der Chirurgie – die Eingriffe erfolgen meist endoskopisch. Ärzte des Beth Israel Deaconess Medical Center, Boston, USA, überprüften jetzt eine neue Methode: Kleine Tumoren der Nebenniere lassen sich gut mit hochfrequenter gepulster elektromagnetischer Strahlung abtragen. Die minimal invasive Methode erlaubt eine schonende und effektive Behandlung der Patienten – bei minimalem Komplikationsrisiko.
Langzeitrisiken nicht unterschätzen
Bis dato vertraten viele Fachärzte die Meinung, nach einer erfolgreichen chirurgischen Behandlung würden sich Morbidität und Mortalität normalisieren. Neue Daten lassen jetzt aufhorchen: Eine höheres kardiovaskuläres Risiko ist noch lange Zeit nach dem Eingriff vorhanden, berichten Forscher der Universitat Autònoma de Barcelona, Spanien. In einer Langzeit-Follow-Up-Studie beobachteten sie die Patienten postoperativ über fünf Jahre. Zwar sei die Lebensqualität im Vergleich zum Gesundheitszustand vor dem Eingriff deutlich verbessert. Gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt wären aber deutlich schlechtere Werte zu beobachten. Das betrifft die Masse bzw. Verteilung des Körperfetts, die Knochendichte sowie das Herz-Kreislauf-System.
Arzneimitteltherapie: Neues Präparat in Sicht
Als Therapie der zweiten Wahl gelten Pharmaka, die in den Stoffwechsel der Kortisol-Biosynthese eingreifen. Dazu gehören Metyrapon, Aminoglutethimid, Mitotan bzw. Ketoconazol. Entsprechende Präparate sind in Deutschland aber derzeit nicht verfügbar. Im September gab Novartis bekannt, die Substanz mit dem Laborkürzel SOM230 erfolgreich in einer Phase-III-Studie getestet zu haben. Bei den meisten Cushing-Probanden sei der Kortisolspiegel gesunken, und 26 Prozent hätten sogar ein normales Level erreicht, so das Unternehmen. Für das Zulassungsverfahren selbst bekam der Arzneistoff den „Orphan Drug“-Status zugebilligt, eine Bewertung von Therapeutika seltener Erkrankungen. Der Pharmahersteller kann jetzt mit einer beschleunigten Bearbeitung des Zulassungsantrags und mit einem Gebührenerlass rechnen. Bei Erfolg winken vor allem exklusive Vermarktungsrechte über zehn Jahre hinweg.