Wenn Frauen und Männer Schmerzen empfinden, sind die entsprechenden Signalwege und Schwellenwerte oft ganz unterschiedlich. Umso wichtiger ist es, in der Forschung sowohl bei Humanstudien als auch bei Versuchstieren beide Geschlechter einzubeziehen.
Um Gottes Willen! Doppelt so viele Käfige, doppelt so viele Versuchstiere! Und dann noch unberechenbare Hormonschwankungen im Zyklus weiblicher Mäuse! Nicht nur Schmerzforscher würden am liebsten die aktuellen Empfehlungen ignorieren. Bei Studien am Menschen und auch beim Tier sollen beide Geschlechter gleichermaßen berücksichtigt werden – so gibt es das National Institute of Health (NIH) in den USA vor. In der Schmerzforschung zeigt die Statistik ganz deutlich, wie ungleich die Geschlechter berücksichtigt werden: 71 Artikel mit Mäuse- oder Rattenexperimenten wurden 2015 im „Journal of Pain“ veröffentlicht. Davon beschränkten sich 65 auf Experimente mit männlichen Tieren, sechs auf solche mit mit weiblichen Tieren und nur drei verwendeten sowohl männliche als auch weibliche Nager. Sechs Publikationen enthielten keinerlei Beschreibung des Geschlechts. Dabei sind die oben genannten Vorurteile zum allergrößten Teil unbegründet, wie Jeffrey Mogil von der McGill University im kanadischen Montreal in einem „Nature“-Artikel erläutert.
Wenn es um die Schmerzforschung geht, ist die Variabilität bei Versuchsergebnissen bei Mäusefrauen nicht größer als bei Männern. Das gilt übrigens für alle Arten von Labortieren. Im Gegenteil: Sind mehrere Männchen im Käfig, schlägt sich der Kampf um die Rangordnung auch oft in den physiologischen Daten nieder. Braucht es also die doppelte Anzahl an Tieren, um die Anforderungen des NIH zu erfüllen? Mogil beantwortet die Frage mit einem „im Prinzip nicht!“ Denn große Unterschiede in den Ergebnissen zwischen männlichen und weiblichen Tieren machen sich auch schon bei kleinen Versuchstierzahlen bemerkbar. Kleinere Unterschiede dagegen gehen wohl in der allgemeinen Schwankungsbreite der Resultate unter. Deutliche Geschlechtsunterschiede in den Reaktionen böten vielmehr sogar Stoff für eine eigene neue Veröffentlichung.
Die meisten Patienten, gerade in der Schmerzmedizin, sind Frauen. Ein weiterer Grund, sich auch in der Forschung mehr dem weiblichen Geschlecht zuzuwenden. Vor allem chronische Schmerzen treffen das weibliche Geschlecht weitaus häufiger. Statistiken belegen: Frauen sind empfindlicher gegenüber Schmerzen und empfinden Schmerzen deutlich stärker als Männer. Die Suche nach den genauen Ursachen der Unterschiede zwischen dem „starken Krieger“ und der „schwachen Frau“ ist jedoch aufgrund vieler unterschiedlicher Befunde sehr mühsam. Besonders in diesem Bereich stellt sich oft die Frage: Was ist Ursache, was ist Wirkung? Postmortem-Untersuchungen zeigten in der Haut von Frauen eine doppelt so hohe Dichte an Nervenfasern wie beim Mann. Bei der Frau scheinen auch die Gehirnregionen für affektive Schmerzkontrolle aktiver als beim Mann zu sein. Ohne den Faktor „Ängstlichkeit“ bei neuropsychologischen Studien erscheinen die Prozesse im Gehirn bei beiden Geschlechtern wiederum sehr ähnlich. Die Psyche scheint daher eine große Rolle bei der Schmerzempfindung zu spielen – ebenso wie Geschlechtshormone. Bei Versuchen mit männlichen Ratten zeigten Östrogene eine pronozizeptive Wirkung, also eine Zunahme der Schmerzempfindung. Bei weiblichen Ratten, bei denen eine Schwangerschaft simuliert wurde, erhöhten dagegen hohe Plasmakonzentrationen von Östrogenen und Progesteron die Schmerzschwelle. In einem Mausmodell, das mit einer Ligatur des Ischiasnervs neuropathische Schmerzen simulierte, erholten sich männliche Tiere schnell von diesem Schock, während weibliche Tier nur langsam unter Zugabe von Östradiol wieder in den Normalzustand zurückfanden.
Immer mehr zeigt sich auch, dass Neuronen und ihre Hüllzellen wohl bei weitem nicht die einzigen Zellen sind, die an der Entstehung von Schmerz beteiligt sind. Immer mehr rücken in diesem Forschungsgebiet Immunsystem und Nervensystem zusammen. Mikroglia und Zellen des Immunsystems sind wesentlich am Schmerz, aber auch an anderen neurologischen Krankheiten beteiligt. Viele davon haben eine ganz unterschiedliche Verteilung bei Mann und Frau. So haben Tierexperimente inzwischen gezeigt, dass der Mikroglia-Inhibitor Minozyklin vor allem bei männlichen Tieren Schmerzen unterdrückt, jedoch kaum bei weiblichen. Dort sind vor allem T-Zellen als Teil des adaptiven Immunsystems für eine induzierte Hypersensitivität verantwortlich und bei Mäusefrauen in doppelt so hoher Anzahl wie bei Männern vorhanden. Bei T-Zell-defizienten Mäusen, so konnten Wissenschaftler aus dem Labor von Mogil demonstrieren, können Testosterongaben die induzierte Allodynie bei weiblichen Mäusen auflösen. Was aber bewirkt Testosteron? Anscheinend hat das Hormon Einfluss auf die Transkriptionsfaktoren PPAR (Peroxisom-Proliferator-aktivierte Rezeptoren) und bremst über diesen Weg den Auswurf proinflammatorischer Mediatoren. Agonisten des Subtyps PPARα linderten eine Allodynie beim männlichen Geschlecht, nicht jedoch beim weiblichen. Für Agonisten von PPARγ gilt genau das Umgekehrte. Testosteron verschiebt in T-Zellen das PPAR-Gleichgewicht in Richtung PPARα. P2RX4 (Purin Rezeptor 4) kommt bei neuropathischen Schmerzen bei Mikrogliazellen vor - aber nur bei Tieren mit hohem Testosteronspiegel - also männlichen. Ähnliches gilt für den Rezeptor des angeborenen Immunsystems, TLR4. Lipospolysaccharid-Injektionen lassen Mäuse-TLR4-Spiegel in beiden Geschlechtern steigen, aber die entsprechende TLR4-abhängige Schmerzreaktion ist wiederum vom Testosteron-Spiegel abhängig.
Bei Frauen ist die Menopause ein wichtiger Einschnitt auch bei der Schmerzempfindlichkeit. Der geringere Östrogenspiegel vermindert im allgemeinen Schmerzen, insbesondere Kopfschmerzen. Im Gegenzug tauchen aber oft neue schmerzhafte Krankheiten wie etwa Osteoporose oder Gelenkentzündungen auf, die nicht weniger Leiden verursachen. Geht man zurück zu Versuchstieren, so spielt bei der Schmerzempfindlichkeit nicht nur das eigene Geschlecht eine Rolle, sondern etwa auch das des Versuchsleiters bzw. Tierpflegers. Männliche Tiere reagieren auf männliche Experimentatoren mit einer stress-induzierten Analgesie, die bei weiblichen Tieren wesentlich schwächer ausfällt. Mit getragenen Kleidungsstücken, aber auch Nistmaterial unverwandter Säugetier-Männchen lässt sich dieser Effekt reproduzieren. Sollten sich Frauen jetzt lieber den weiblichen Arzt suchen? Können Testosterongaben den Schmerz bei Frauen lindern? Welche Schmerzmittel helfen eher Männern, welche eher Frauen? Das Geflecht von Einflüssen auf die Schmerzempfindung scheint im Moment noch viel zu kompliziert zu sein, um einfache Antworten darauf zu geben. Wahrscheinlich gelten viele Befunde, die mit Mäusen und Ratten erhoben wurden, auch für den menschlichen Schmerz. Präklinische Studien, die sich daher nur auf ein Geschlecht der Versuchstiere konzentrieren, sind damit wohl Forschung von gestern.