Psychostimulanzien haben sich zu wahren Rennern auf dem Arzneimittelmarkt entwickelt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) behauptet jetzt, er habe die Verordnungsfähigkeit eingeschränkt. Die Realität ist allerdings etwas prosaischer. Von einem Kreuzzug gegen Methylphenidat und Co ist weit und breit nichts zu sehen.
Methylphenidat und andere Psychostimulanzien sind zugelassen für die Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssydrom (ADHS). Das ist unstrittig. Wie bei vielen anderen Medikamenten stellt sich aber auch bei den Stimulanzien eine heikle Frage: Werden sie wirklich nur oder zumindest weit überwiegend so eingesetzt, wie das vorgesehen ist, und wie das auch von Leitlinien empfohlen wird, etwa von der Leitlinie Hyperkinetische Störungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie oder der Leitlinie der AG ADHS?
Methylphenidat und Co: Immer noch der Renner auf dem Arzneimittelmarkt
Hier sind zumindest Zweifel angebracht. Professor Matthias Kieslich vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main kann davon ein Lied singen: „Ich kann mich allein im letzten Jahr an drei Situationen erinnern, in denen mich Eltern nach Methylphenidat gefragt haben, um dadurch die Chancen zu erhöhen, dass ihr Kind nach der vierten Klasse aufs Gymnasium kommt“, so Kieslich im Gespräch mit DocCheck. In Frankfurt stoßen Eltern mit solchen Ansinnen auf Granit. Doch ob das überall so ist? Kieslich ist sich nicht so sicher: „Ich denke schon, dass es auch in Deutschland bei den Psychostimulanzien eine große Dunkelziffer für nicht medizinisch indizierten Gebrauch gibt. Gehirn-Doping beziehungsweise Neuroenhancement sind auch in Deutschland ein großes Thema. Das fängt bereits in der Schule an.“
Die Verordnungszahlen innerhalb des GKV-Systems sind in der Tat recht eindrucksvoll: 52,3 Millionen Tagesdosen Methylphenidat wurden im Jahr 2008 zu Lasten der GKV verordnet, ein Plus von über 12 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dazu kamen 3,6 Millionen Tagesdosen von anderen Stimulanzien, vor allem Atomoxetin. Nur zum Vergleich: Von dem ebenfalls nicht unbeliebten Johanniskraut wurden bei einer durchaus größeren potenziellen Zielgruppe „nur“ 22,7 Millionen Tagesdosen verordnet. Steigerungsraten von zehn und mehr Prozent sind bei den Stimulanzien die Regel, nicht die Ausnahme. Seit Jahren geht es immer weiter nach oben. Die Frage ist nun, wie man das interpretiert. Wird ADHS in Zeiten wie unseren einfach häufiger? Gab es in Deutschland jahrelang eine Unterversorgung? Oder werden Stimulanzien wirklich viel zu oft verordnet, weil der Zeitgeist danach ruft?
Stimulanzien nur noch vom Spezialisten
In Spannungsfeld dieser Fragen bewegt sich natürlich auch eine Instanz wie der Gemeinsame Bundesausschuss, der am 16. September einen Beschluss vorgelegt hat, in dem die Verordnung von Psychostimulanzien zum wiederholten Mal thematisiert wird. Der Beschluss wurde begleitet von einer Pressemeldung mit dem Titel Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Und in dieser Pressemeldung verkündet der GBA, er habe die Verordnungsfähigkeit der Stimulanzien weiter eingeschränkt: „Die Verordnung dieser Medikamente darf nur noch von Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen erfolgen“, heißt es dort. Von zahlreichen Medien inklusive weiter Teile der medizinischen und pharmazeutischen Fachpresse wurde das dann auch genau so wiedergegeben. Aber gibt es wirklich eine Einschränkung? Wer den Beschlusstext liest, hat zumindest Schwierigkeiten, die Interpretation einer eingeschränkten Verordnungsfähigkeit nachzuvollziehen.
Was in der Pressemeldung nämlich nicht steht, ist, dass es gar keinen klar definierten „Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen“ gibt. Im GBA-Beschluss wird das ziemlich deutlich, weil dort die Fachgruppen, die auch künftig noch Stimulanzien verordnen dürfen, einzeln aufgelistet sind: Sämtliche neuropsychiatrischen Fachrichtungen sind darunter, aber auch und sogar zuerst genannt: Kinderärzte. Lediglich bei den Allgemeinmedizinern wird eine Einschränkung gemacht. Hier muss künftig bei Stimulanzienverordnungen eine „Aufsicht durch einen Spezialisten für Verhaltensstörungen“ erfolgen, heißt es im GBA-Beschluss.
AG ADHS: Wo bitte ist die Verschärfung?
Mit anderen Worten: Die These, dass zum Schutz der Kinder die Verordnungsfähigkeit von Stimulanzien nennenswert eingeschränkt wurde, lässt sich nach Lektüre des Beschlusses nicht wirklich aufrecht erhalten. Die unmittelbar Betroffenen beziehungsweise nicht Betroffenen sehen das ähnlich: „Wo bitte ist die Verschärfung?“, fragt beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V. in einer Stellungnahme. Eine Nachfrage von DocCheck beim GBA brachte nur bedingt neue Erkenntnisse. Der GBA weist darauf hin, dass die Entscheidung vor dem Hintergrund eines Risikobewertungsverfahrens der EMA getroffen worden sei, die die zerebrovaskulären, kardiovaskulären und psychiatrischen Risiken der Stimulanzien evaluiert hat.
Die EMA-Empfehlung lautete, die Verfügbarkeit von Methylphenidat für eine tatsächlich erforderliche Behandlung beizubehalten. Mit dem expliziten Hinweis darauf, dass Stimulanzien Teil eines therapeutischen Gesamtkonzepts sein müssen und dass vor einer Stimulanzientherapie eine adäquate Diagnose gestellt werden muss, die nicht nur einzelne Symptome berücksichtigt, will man der EMA offenbar Rechnung tragen. Nur: Neu ist das nicht, und insofern ist auch nicht zu erwarten, dass sich der GBA-Beschluss nennenswert auf die Stimulanzienverordnungen auswirkt.