Dass es Multimedikation bei multimorbiden Senioren gibt, wird allgemein nicht bestritten. Die Medikamente kosten das Gesundheitssystem viel Geld. Aber auch Krankenhaus– und Praxiskosten wegen häufiger Wechsel- und Nebenwirkungen sind nicht zu unterschätzen.
Wer die Folgen gefährlicher Wechselwirkungen zu vertreten hat, darüber streiten nicht nur die Gelehrten. Ist es der Zeitmangel oder die Unkenntnis der Ärzte? Oder dass Hausärzte gar nicht mehr überschauen, was von Facharzt-Kollegen verordnet wurde? Oder ein Wissensdefizit, weil die Pharmaindustrie zu wenig Studien in der Zielgruppe der alten Menschen durchführt? Oder die Zulassungsbehörden, die an die Zulassung bestimmte Voraussetzungen knüpfen könnten?
Wie dem auch sei, Behandlungskosten, verursacht durch Multimedikation, kosten das Gesundheitssystem viel Geld. Deswegen fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2007 sechs Verbundprojekte zum Thema "Gesundheit im Alter" mit insgesamt 16 Millionen Euro. Weitere Fördermaßnahmen sind bereits in Sicht. Ziel ist, wissenschaftliche Voraussetzungen für die Verbesserung der medizinischen Versorgung und Pflege älterer Menschen zu schaffen. "Priscus" (lateinisch: „alt, altehrwürdig“) heißt eines dieser geförderten Projekte, in dem Forscher in fachübergreifender Zusammenarbeit neue Therapieansätze und Versorgungsstrukturen für ältere, multimorbide Menschen entwickeln. "Priscus" wird von Dr. med. Ulrich Thiem, Abteilung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie an der Ruhr-Universität Bochum, koordiniert.
Bis zu zehn und mehr Medikamente am Tag
Die Priscus-Forscher ermittelten zunächst einmal Anzahl und Wirkstoffe der Medikamente, die von über 70-Jährigen eingenommen wird. Dazu befragten sie 2.500 Patienten in Telefoninterviews. Das Ergebnis: Im Durchschnitt nahm jeder Befragte sechs verschiedene Medikamente - plus/minus drei -regelmäßig ein. Je älter umso mehr. Zu den häufigsten Präparaten gehörten Blutdruckmedikamente, Lipidsenker und Diabetesmedikamente. Erschreckend sei, so Thiem, "dass die Patienten mit wilden Mischungen von Wirkstoffen behandelt werden, die sich teils in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben und teils Wechselwirkungen hervorrufen können, über die man kaum Kenntnisse hat". Das Grundproblem sei, dass bei Multimorbidität nicht jede einzelne Erkrankung behandelt werden kann, ohne Gefahr zu laufen, einen ungünstigen Medikamentenmix zu verabreichen. Deshalb müsse man Prioritäten setzen bzw. sinnvolle Behandlungsmuster entwickeln.
Prioritäten bei der Behandlung setzen
Wie könnten diese Prioritäten bzw. Behandlungsmuster aussehen? Um diese Frage zu beantworten, haben die Priscus-Forscher eine weitere telefonische Patienten-Umfrage durchgeführt mit dem Ziel, statistisch häufige Erkrankungskombinationen herauszufinden. Beispielsweise den "Herztypen", der infolge langjähriger Diabetes, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen Gefäßprobleme hat. Außerdem fragten sie ab, was die Patienten sich von einer Behandlung wünschen. Erste Ergebnisse bestätigten die Einschätzung, dass die Bewältigung des Alltags in den eigenen vier Wänden Vorrang hat. Was in fünf oder zehn Jahren ist, sei den Patienten weniger wichtig nach dem Motto, dass man dann vielleicht schon nicht mehr lebe. "Ob der 80-Jährige Bluthochdruck hat, der auf mehrere Jahre sein Schlaganfallrisiko erhöht, ist ihm nicht so wichtig", so Thiem. Aber die Behandlung der Arthrose mit Schmerztabletten mache ihm den Alltag leichter. Die endgültigen Ergebnisse der Studie stehen noch aus.
PIM-Liste für deutsche Verordnungspraxis
Im Rahmen des Verbundprojekts ist auch die Priscus-Liste entstanden, die unter Federführung von Prof. Dr. Petra Thürmann, Universität Witten-Herdecke, entwickelt wurde. Die Liste wurde vor kurzem vorgestellt. Sie enthält 83 Arzneistoffe, die als potenziell inadäquate Medikamente (PIM) für ältere Menschen eingestuft wurden. Die Idee dazu stammt aus Amerika. Die Priscus-Forscher glichen zunächst die seit 1991 mehrfach aktualisierte US-Liste mit den in Deutschland verordneten Arzneien ab. Da es keine verwertbare Übereinstimmung gab, wurde eine Liste speziell für den deutschen Markt entwickelt. Allerdings gibt sie keine Auskunft über Wechselwirkungen von Medikamenten. Dazu Thürmann: "Arzneimittelinteraktionen sind extrem vielseitig und umfangreich, so dass wir, um im Rahmen der Handhabbarkeit der Liste zu bleiben, an dieser Stelle auf das wichtige Thema der Arzneimittelinteraktionen leider nicht weiter eingehen konnten. Es ist aber ein Thema für mögliche Weiterentwicklungen der Liste. An dieser Stelle möchten wir die Nutzung elektronischer Wechselwirkungschecks empfehlen." Geplant ist, in einer beantragten zweiten Förderphase die PRISCUS-Liste in den Praxis-Alltag von Hausärzten und in den Klinik-Alltag zu implementieren.
Arzneimittel-Sicherheitsgurt
Auch in Österreich wird nach Lösungen gesucht, mit denen gefährliche Pillencocktails geahndet werden können. Auch hier ist der Hauptkonsument über 70. Der erstmals in Salzburg getestete "Arzneimittel-Sicherheitsgurt", von Gesundheitsministerium und Apothekerkammer entwickelt, basiert auf einer Patienten-Medikamenten-Datei, die der Apotheker auf Basis der E-Card anlegt. Bei Erkennen einer gefährlichen Wechselwirkung wird der Patient informiert und notfalls zum Arzt geschickt. Die Österreichische Ärztekammer (ÖÄK) wehrt sich gegen diesen E-Sicherheitsgurt. "Apotheker können niemals beurteilen, wie die Medikation zu erfolgen hat", verlautet es von der ÖÄK. Die Krankenkassen begrüßen das Projekt, weil es Einsparungen in Millionenhöhe verspricht. Die Apotheker beharren darauf aufgrund der hohen Investitionen, die bereits getätigt wurden. Die Pilotversuche werden wie geplant durchgeführt. Auch ein Weg, der ganz ohne wissenschaftliche Studien zum Ziel führen könnte.