Kürzlich sprach der Bundesgerichtshof einen Anwalt vom Vorwurf des versuchten Totschlags frei. Seine Mandantin hatte den Versorgungsschlauch ihrer Mutter im Wachkoma durchschnitten. Wann darf ein Patient sterben?
„Es geht um die Wiederentdeckung des natürlichen Todes. Um das, was ich das liebevolle Unterlassen am Lebensende nenne. Wozu manchmal mehr Mut gehört als zum Tun.“ Der diese Sätze sagt, hat nichts mit Sterbehilfe im Sinn, nichts mit Selbstmord auf Verlangen. Gian Domenico Borasio plädiert in seinem Gespräch mit Anna von Münchhausen von der FAZ für das Unterlassen von immer weiteren Massnahmen, die den Tod immer noch ein bisschen hinausschieben, mit allen Mitteln, die der ärztlichen Kunst heute zur Verfügung stehen. Borasio ist Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin der Universität München.
Justizia entscheidet, wann gestorben wird
Das friedliche, oft sogar glückliche Einschlafen ist in unserer Zeit immer seltener geworden. Immer häufiger sind die letzten Stunden ein Kampf gegen Schmerzen, ein Dahindämmern, bis der Körper trotz aller technischer Unterstützung aufgibt. Ist es eine glückliche Fügung, wenn das alles nur einige Tage oder Wochen dauert? Wenn sich das Sterben über viele Jahre hinzieht, liegen nicht selten die Nerven der Beteiligten blank. Zuweilen auch vor Gericht.
„Leben im Koma“ lautete die Überschrift über ein Symposium, bei dem sich Palliativmediziner wie Borasio mit Komaforschern, Ethikern, Neurologen und Rechtsanwälten austauschten. Unter ihnen auch Wolfgang Putz. Erst vor einigen Wochen machte er Schlagzeilen, als er vom Bundesgerichtshof von der Anklage „versuchter Totschlag“ freigesprochen wurde. Denn er hatte seiner Mandantin geraten, das acht Jahre lange Wachkoma ihrer Mutter zu beenden und den Schlauch für die künstliche Ernährung zu durchschneiden. Die Tochter berichtete über Gespräche mit ihrer Mutter, die in solchen Situationen lieber sterben wolle.
Überraschende Rückkehr
Der Streit um die Macht der Ärzte, nicht nur ein Leben zu retten, sondern auch ein Sterben zuzulassen, hat Geschichte. Auf tragische Weise wurde so Eluana Englaro berühmt. In Italien griff sogar Premier Berlusconi mit einer eigenen Gesetzgebung ein, bevor ein Gericht den Tod nach 17 Jahren im Koma zuließ. Berühmt wurde aber auch ein Fall, den die BBC Mitte Juli an die Öffentlichkeit brachte: Richard Rudd verbrachte viele Monate zwischen Leben und Tod ohne jegliche Reaktion auf äußere Einflüsse. Tage vor seinem schweren Motorrad-Unfall hatte er darüber gesprochen, niemals sein Leben bewegungs- und reaktionsunfähig in einem Klinikbett verbringen zu wollen. Dennoch kam ein allererstes eindeutiges und mehrmaliges NEIN-Zwinkern auf die Frage, ob Ärzte die lebenserhaltende Technik abschalten sollten.
„Aus dem Zustand des Wachkomas darf nicht abgeleitet werden, dass solche Menschen per se nicht mehr leben wollen“, sagt Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bundes. Auch Andreas Zieger vom Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg bekräftigte in seinem Vortrag diese Ansicht. „Spätes Erwachen ist selten, aber möglich“ erzählte er aus seiner Erfahrung über viele Jahre bei der Behandlung von Patienten mit schweren Hirnverletzungen. Für die Überraschung bei solchen Ereignissen auch bei Medizinern sorgen nicht selten Fehldiagnosen der Ärzte bei der Beurteilung des Komas. Von einer Rate bis zu 40 Prozent berichtete Athena Demertzi, Komaforscherin an der Universität Lüttich. Auch DocCheck vermeldete vor einiger Zeit einen solchen Fall. Gerade in den ersten Tagen und Wochen wechselt der Zustand des Patienten häufig mehrmals zwischen dem „Minimally Conscious State“ und dem wesentlich tieferen „Vegetative State“. Die intensive Untersuchung mit zahlreichen Tests und fMRT-Untersuchungen des Gehirns passiert meist nur in der akuten Phase nach dem Unfall oder Schlaganfall.
Seit etwa einem Jahr ist eine Patientenverfügung für den behandelnden Arzt bindend. Oft fehlt aber das aussagekräftige Schriftstück. Dann gilt der mutmaßliche Wille - Gespräche mit den Angehörigen sollen Klarheit bringen, sorgen aber nicht selten für noch mehr Konfusion. Denn Eltern und Lebenspartner sind sich dabei keineswegs immer einig. Von solchen Erfahrungen berichtete Katja Kühlmeyer vom Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin in München. Die Familie etwa möchte häufig die Behandlung fortsetzen, während der Partner eher ein Ende der vermeintlichen Tortur für den geliebten Menschen herbeisehnt.
Sterbende haben keinen Hunger
Die Entscheidung für oder gegen das „sterben lassen“ hat folgenreiche Konsequenzen: Einerseits den Tod, andererseits eine Verpflegung ohne Wenn und Aber. Das bedeutet zum Beispiel auch eine Organtransplantation für den bedürftigen Komapatienten mit dem gleichen Recht wie für den aktiven Sportler mit langer Lebenserwartung. Die Patientenverfügung, so Borasio, diene aber auch immer wieder dazu, sich vor ärztlichen Kunstfehlern zu schützen. Die Angst vor dem Tod unter großer Qual treibt Pflegekräfte dazu, ihren Patienten reichlich mit Flüssigkeit, Nahrung und Sauerstoff zu versorgen. Das genau, so erklärte der Palliativmediziner, sei das Falsche. Am Lebensende sorgt der Sauerstoff-Strom für eine Austrocknung der Schleimhäute. Viel Trinken hilft aber nicht, weil die Niere oft nicht mehr funktionsfähig ist. Hunger und Durst kommen nach wissenschaftlichen Beobachtungen von Sterbenden nicht vor. Allein das Befeuchten der Schleimhäute sei wichtig, um dem Patienten die letzten Tage zu erleichtern.
Palliativmedizin: Betreuung FÜR die letzte Lebensphase
In Deutschland gehen die Suizidraten seit rund 20 Jahren kontinuierlich zurück. Nur die Alterssuizide wachsen gegen den Trend beständig. Die Angst vor der Verlust der Würde und Unabhängigkeit bringt viele alte Menschen dazu, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Erst die moderne Technik hat im letzten halben Jahrhundert mitgeholfen, dass es auch immer mehr Wachkomapatienten gibt. Etwa 3000 bis 5000 pro Jahr. In seinem „Plädoyer“ vor Beteiligten und Interessierten des Symposiums wies Rechtsanwalt Wolfgang Putz auf die Selbstbestimmung des Menschen auch im Koma hin. In seinem Buch „Wie wollen wir sterben?“ argumentiert der Berliner Notfallmediziner Michael de Ridder für eine neue Sterbekultur ausbehandelter Patienten ohne Chance auf Besserung. Mit seiner Überzeugung, dass der Arzt auf Verlangen auch selbst für das sanfte Einschlafen sorgen solle, erntete er etwa in der ZEIT nicht nur Applaus, sondern auch scharfen Widerspruch.
„Palliativmedizin ist die Betreuung FÜR die letzte letzte Lebensphase, nicht nur IN der letzten Lebensphase“, überschrieb Gian Domenico Borasio seinen Vortrag. Wenn keine Hoffnung auf Besserung mehr besteht, muss der Arzt sein Therapieziel überprüfen: Ist das ursprüngliche Ziel noch realistisch? Und stimmt es mit dem Patientenwillen überein? Matthias Thöns vom Palliativnetz Bochum sagte zum Freispruch des Bundesgerichtshof in der Sache Putz: „Das Urteil ermöglicht engagierten Palliativmedizinern nun endlich, Menschen am Lebensende entsprechend ihrem Willen würdevoll zu versorgen – ohne den Staatsanwalt fürchten zu müssen“.