"Die substitutionsgestützte Behandlung ist ein unverzichtbarer Baustein im Suchthilfesystem", so die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. In Deutschland gibt es Mittel der Substitution, die bei sachgemäßer Anwendung sicher sind. Aber der Missbrauch nimmt zu.
Skeptischer als die Drogenbeauftragte Mechthild Dyckmans äußerte sich auf dem Internationalen Tag gegen Drogenmissbrauch der Vereinten Nationen am 26. Juni 2010 hingegen ein Gefängnisarzt: „Im Vergleich zur suchtmedizinischen Versorgungslage außerhalb der Knastmauern ist die Versorgungslage in den Gefängnissen katastrophal. Nicht einmal die Hälfte aller JVAs bietet überhaupt eine Substitutionstherapie an.“ Dies kritisierte Dr. Hermann-Joseph Bausch-Hölterhoff, Medizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl.
Missbrauch – eine Erfindung der Medien?
Nicht selten wird der Miss- und Fehlgebrauch von substituierenden Ärzten tabuisiert. Wäre das ein Problem, wären die Verordner ja „Dealer in weiß“, wie unlängst ein Nachrichtenmagazin polemisierte. Wie also ist die konkrete Lage in Deutschland? Für das "Projekt zur Evaluation der missbräuchlichen Verwendung von Substitutionsmitteln in Deutschland" wurden 806 Personen der offenen Drogenszene in 13 deutschen Städten anonym zu ihrem Konsumverhalten befragt.
Zwei Drittel der Süchtigen gaben an, bereits Erfahrungen mit nicht-verschriebenen Substitutionsmedikamenten zu haben. In diesen Fällen nutzen die Konsumenten die Reinheit der Substanz. Hier entwickelt sich eine ganz neue Strömung. Methadon und Buprenorphin wird von Erstkonsumenten missbraucht. Reine Substanz heißt aber nicht, dass die Mittel ungefährlich sind. 13,5 Prozent gaben einen Missbrauch dieser Medikamente innerhalb der vergangenen 24 Stunden zu. 58,7 Prozent hatten bereits einmal illegal erworbenes Methadon eingenommen oder sich das Medikament gespritzt. Bei Buprenorphin gaben dies 41,8 Prozent an. Die Studie des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg belegte ebenfalls, das jeder zehnte Methadon-Substituierte und fast jeder siebte Buprenorphin-Patient außerdem zusätzlich nicht-verschriebene Substitutionspräparate konsumiert. Während 83% aller Buprenorphin-Patienten nur Buprenorphin verwenden, missbrauchen 93% aller Methadon-Patienten Opiate, Kokain und Benzodiazepine. Dieses Ergebnis wurde auf der Tagung des Netzwerkes Sucht in Bayern im März 2010 in München vorgestellt.
Schlange gibt Evidenz
In der COBRA-Studie (Cost-Benefit and Risk Appraisal of Substitution Treatments) wurde systematisch untersucht, wie sich die Substanzen in der Routineversorgung opiatabhängiger Patienten bewähren. Die Folgestudie PREMOS (Predictors, Moderators and Outcomes of Substitution Treatment) strebt an, den 4-5 Jahresverlauf von Substitutionstherapien zu ermitteln, die Langzeit-Effekte zu beschreiben sowie Prädiktoren und Moderatoren des Therapieerfolgs zu identifizieren.
Die hoffnungsvollen Resultate der COBRA-Studie werden jedoch durch die Tatsache getrübt, dass alle Substitutionsmittel als Droge missbräuchlich verwendet werden können. Der Missbrauch kann auf unterschiedliche Arten erfolgen.
Die Motive für den Missbrauch haben pharmakologische oder suchtverhaltensbedingte Gründe. Die orale Anwendung von Methadon oder die sublinguale von Buprenorphin sättigen zwar den Opiatspiegel auf und verhindern Entzugserscheinungen, die ersehnte übermäßige Euphorie bleibt jedoch aus. Außerdem möchten viele Substituierte nicht auf das „Ritual“ der Vorbereitung und des Konsums verzichten. Es ist ein Unterschied, ob der Patient eine Kerze anzündet, seine Droge mit Ascorbinsäure im Löffel aufkocht, die Lösung durch Watte in eine Spitze aspiriert, seine Vene staut und die Lösung injiziert oder ob er eine Tablette lutscht. Würde es Rauchern nur um das Nikotin gehen, hätten entsprechende Pflaster (TTS) die Zigarette verdrängt.
Nase statt Vene
Die Nase als Applikationsort für Drogen ist nicht neu, Methamphetamin und Kokain werden nasal geschnieft. Wenn ein Wirkstoff lipophil ist, kann er die nasalen Schleimhäute passieren und über die Blut-Hirn-Schranke zum Ort der Drogenwirkungen gelangen, dem Lymbischen System. Die Substanzen werden rasch resorbiert, durch Magensäure nicht zerstört und der hepatische First-Pass-Effekt kann nicht so zuschlagen. Im Vergleich zur intravenösen Gabe entfallen das Infektionsrisiko und die Gefahr durch Talkumrückstände.
Venen mögen keinen O-Saft
Beigemischte Stoffe wie Fruchtsaft oder Zucker sollen den Missbrauch verhindern. Werden sie missbräuchlich intravenös injiziert, drohen schwere Gefäßschäden. Dies schreckt die risikofreudigen Konsumenten jedoch nicht ab. Besonders gefährlich ist auch das Mörsern und anschließende Injizieren von Morphintabletten. Nicht nur von den arzneilich wirksamen Bestandteilen gehen Gefahren aus, auch die Hilfsstoffe können schwere Schäden induzieren. Nach intravenösem Missbrauch von talkumhaltigen Medikamenten die zur oralen Applikation vorgesehen sind, wurden u. a. irreversible Lungenschäden wie die Lungentalkose beschrieben. Talkum wird als Bindemittel in Tabletten verwendet.
Buprenorphin – mit eingebautem Spaßverderber
Buprenorphin schien bis vor einigen Jahren noch ein „Ausnahmesubstitutionsmittel“ zu sein. In sehr vielen Punkten unterscheidet es sich vom Methadon:
Besonders die Patienten, die aktiv(er) am Leben teilnehmen möchten, sich Ziele setzen und Familie haben, profitieren von dem Effekt der geistigen Klarheit. Bei 16 mg Buprenorphin sind bereits 80 % aller µ-Opiatrezeptoren blockiert. Im Dosisbereich von 18 bis 90 (!) mg Methadon sind nur zwischen 10 und 15 % der Rezeptoren belegt.
Als partieller Agonist greift Buprenorphin quasi nur mit halber Kraft am µ-Rezeptor an. Der Grund, warum es dennoch so effizient ist und andere Opiate verdrängt, ist die starke Rezeptorbindung. Verglichen mit Morphin wirkt es etwa 100-mal so stark analgetisch. Dies bewirkt, dass es kompetitiv andere Opiate vom Rezeptor verdrängt. Deshalb war man sich lange Zeit sicher, dass ein Beigebrauch mit anderen Opiaten unmöglich ist. Auch die antagonistische Komponente am kappa-Rezeptor trug zu dieser Annahme bei. Doch die Entwickler haben die Rechnung ohne die pharmakologisch versierten Anwender gemacht. In Foren werden Tipps ausgetauscht, wie das Mittel zu konsumieren ist, damit es dennoch einen „Kick“ auslöst. Durch höhere Dosierungen oder die Verabreichung über die Nasenschleimhaut oder Vene überlisten die Missbrauchsicherheit. Die parenterale Applikation von Buprenorphin kann eine Reihe von Gefäß- und Hautschäden auslösen. Erytheme, Thrombosen, Nekrosen bis hin zu Amputationen und Todesfällen sind dokumentiert.
Methadon – der Klassiker
Methadon wirkt wie Heroin und Morphin agonistisch an Opiatrezeptoren vom µ-Subtyp des Gehirns, Rückenmarks und des Darms. Die Folge ist eine Analgesie, Euphorie, Atemdepression und ein hohes Suchtpotential. In ausreichend hohen Dosen unterdrückt Methadon den Heroinhunger für einen Tag. Abhängige sind durch Methadon in der Lage, auf Heroin zu verzichten und sich wieder anderen Wünschen und Zielen als dem Suchtmittel zuzuwenden. Um mit Methadon einen „Kick“ zu erzeugen, wird die orale Dosis gesteigert oder die Lösung bzw. pulverisierte Tabletten intravenös gespritzt.
Antagonist kann Missbrauch verhindern
Eine mögliche Lösung, den Missbrauch von Substitutionsmitteln zu verhindern, scheint die Kombination mit einem potenten Opiatantagonisten zu sein. Die Kombination eines Opioides mit einem Antagonisten ist eine bereits bewährte Strategie zur Reduzierung des Potentials für intravenösen Missbrauch. Sowohl Tilidin als auch Oxycodon gibt es als Fixkombinationen mit dem Opiatantagonisten Naloxon. Die Europäische Zulassungsbehörde EMEA hat ihre Zustimmung für eine Fixkombination aus Buprenorphin und Naloxon im Verhältnis 4:1 erteilt. Das Medikament ist seit März 2007 in Deutschland auf den Markt erhältlich.
Bei sachgerechter sublingualer Anwendung wird der Opiatantagonist Naloxon nicht resorbiert; die Fixkombination wirkt wie das bewährte Buprenorphin. Der Zusatz von Naloxon verändert nicht die Pharmakokinetik. Erst wenn der Anwender sein Arzneimittel als Pulver schnieft oder aufgelöst spritzt, setzt die Wirkung des Opiatantagonisten Naloxon ein. Die Folge ist ein Entzugssyndrom, das den weiteren Missbrauch des Medikaments verhindern soll. Die Fixkombination ist ebenso effizient wie das Monopräparat mit Buprenorphin allein.
Nicht selten klagen Patienten, die auf das Kombimittel umgestellt werden, über mehr Nebenwirkungen. Das lässt sich pharmakologisch nicht erklären. Der bei der sublingualen Gabe resorbierte Anteil an Naloxon liegt bei 10 % und somit unter der therapeutisch wirksamen Grenze. Entweder spielt sich die Nebenwirkung im Kopf ab oder der Patient hat Angst, sein Mittel nicht mehr missbrauchen zu können. Die Mischung aus „Partialagonist mit antagonistischen Eigenschaften und einem Vollantagonisten“ verdirbt den Patienten jeden Spaß. Zumindest am Beigebrauch. Der komplexe Wirkmechanismus verdirbt jedoch manchmal dem Suchtmediziner den Spaß, denn Buprenorphin hat, verglichen mit anderen Opiaten, fast nur Ausnahmen. In Frankreich bekommt heute jeder zweite Substitutionspatient Buprenorphin, in Deutschland momentan nur jeder fünfte. Auch hier gilt wie bei den anderen Mitteln: Jede Therapie hat ihre Vor- und Nachteile. Hier ist es Aufgabe der Experten, für den Patienten den besten Weg zu finden.