Wer wissen will, wie Medikamente oder Giftstoffe auf die Lunge wirken, der muss Tiere töten. Oder baut Organ-on-a-chip-Modelle, die Antworten liefern. Ein bisschen Synthetik, ordentlich Vakuum, E. coli drauf und fertig ist die Pneumonie aus der Dose.
Die Computerindustrie ist der Ansprechpartner der Wahl, wenn es darum geht, wie auf allerkleinstem Raum unendlich präzise gearbeitet werden kann. Dieser Auffassung war auch ein Team von Wissenschaftlern um Donald E. Ingber, Direktor des Wyss Instituts für biologisch inspiriertes Ingenieurswesen an der Harvard Medical School in Boston. Die Forscher haben sich des Know-hows der Chiphersteller bedient, um einen neuen Bio-Chip zu entwerfen. Genau genommen geht es um ein so genanntes „Organ-on-a-chip“, eine künstliche Lunge, die in Struktur und Eigenschaften jene alveolären Säckchen nachahmt, ohne die es für den Menschen weder Gasaustausch noch Überleben gibt.
Und er schuf die Lunge nach ihrem Ebenbild
Die Herausforderung dabei war, einerseits die zelluläre Grenzschicht zwischen Luft und Blutbahn nachzubilden – natürlich unter Einsatz von Originalmaterialien, sprich Epithelzellen der Alveolen und Endothelzellen der Kapillaren. Nachgebaut werden musste aber auch die Mechanik der Lunge. Denn die Grenzschicht sollte atmen, ganz ähnlich wie das die menschliche Lunge tut, wenn sie im Thorax schlummert. Der Trick, der Ingber und seine Kollegen zum Erfolg führte, bestand in einer mit Methoden der Chipherstellung erzeugten synthetischen Matrix mit darin eingelassenen Kanälen. In einem dieser Kanäle wurde die Grenzschicht aus Alveolarzellen und Endothelzellen nachgebildet, auf einer Seite Luft, auf der anderen Flüssigkeit. Die anderen Kanäle dienten als Anschlusspunkte für eine Art miniaturisierte Luftpumpe: „Wir legen dort ein Vakuum an, das dazu führt, dass sich die Zellschicht ausdehnt und wieder zusammenzieht“, so Ingber. Mit anderen Worten: Das Modell verhält sich ganz so, wie sich auch die Alveolarwand verhält, wenn sich Rippenbogen und Zwerchfell heben und senken. „Wir haben damit die Möglichkeit, die Reaktionen der Lunge auf Krankheitserreger oder auch auf Umweltgifte zu untersuchen“, so Ingber. „Wir können nur dann wirklich verstehen, wie die Biologie funktioniert, wenn wir sie auch physikalisch-mechanisch in dem Kontext ansiedeln, der für echte Organe gilt. Der Einsatz von Vakuum in unserem Modell imitiert die Natur.“ Für Ingber ist sein Lungenmodell, über das er in der Fachzeitschrift Science berichtet hat, ein Prototyp für Modelle anderer Organe, die in ähnlicher Weise erzeugt werden könnten. „Das könnte irgendwann dazu beitragen, eine große Zahl an Tierversuchen einzusparen“, betont der Experte.
Erwünscht: Künstliche Lungenentzündung
Mittlerweile haben die Harvard-Forscher erste Experimente mit dem Modell unternommen, in denen sie zeigen können, dass ihre Simulation der Natur auf einem Chip tatsächlich relativ gut gelungen ist. So wurde untersucht, was passiert, wenn das Lungenmodell einer Infektion mit Escherichia coli ausgesetzt wird, eine simulierte Lungenentzündung, wenn man so will. Durch den Luftkanal wurden E. coli-Bakterien auf die Lungenseite des Modells geblasen. Gleichzeitig wurde das Kulturmedium auf der Blutseite mit weißen Blutkörperchen angereichert. Was die Natur in einer solchen Situation macht, ist Schadensbegrenzung. Sie schickt ihre Abwehrzellen raus ins kalte Alveolarmilieu, um dort zu retten, was noch zu retten ist. Im Modell funktionierte das tatsächlich genau so. Die Alveolarzellen erkannten die Bakterien und sendeten ein Signal in Richtung Blutgefäß. Daraufhin machten sich die Leukozyten auf den Marsch durch die sich rhythmisch dehnende und wieder zusammenziehende Alveolarwand. Im Luftkompartment zerstörten sie die Bakterien.
Der nächste Schritt: Personalisierte Modelle für die Pharma-Forschung
Nach diesem Erfolg machten die Wissenschaftler dann ein weiteres Experiment. Statt Bakterien bliesen sie Nanopartikel in das Lungenmodell, um zu sehen, was die simulierte Lunge wohl damit machen würde – und zwar einmal im atmenden und einmal im nicht atmenden Zustand. „Wir haben festgestellt, dass die Tätigkeit des Atmens die Absorption von Nanopartikeln deutlich verstärkt, betont Dan Huh, der Leiter des Projekts simulierte Lunge. Das war bisher so nicht bekannt.
Einige offene Flanken hat das Lungenmodell der Bostoner Forscher derzeit noch. So konnte bisher noch nicht gezeigt werden, dass sich auch der Gasaustausch über die künstliche Alveolarwand hinweg simulieren lässt. Daran wird gerade gearbeitet. Auch wäre denkbar, dass sich die Lungen unterschiedlicher Menschen hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber Fremdkörpern unterscheiden. Dieser Punkt ist besonders spannend: Denn im Prinzip könnten für die Erzeugung eines Organmodells patienteneigene Zellen genommen werden. Damit ließe sich ein Lungenmodell erzeugen, das sich exakt so verhält wie die Lunge des Patienten, für den zum Beispiel eine optimale Therapie gesucht wird. Wenn dann noch andere Organmodelle wie Darm oder Leber auf denselben Chip gepackt werden, könnten Pharma-Forscher gleich auch noch unerwünschte Organwirkungen eines Medikaments mit untersuchen. „Hier eröffnen sich wirklich ganz neue Wege für die Arzneimittelentwicklung“, ist Ingber überzeugt.