40 Milliarden hat China für die EXPO ausgegeben - womöglich hätte ein Teil davon in die Verteilung von Kondomen fließen müssen. Denn Epidemiologen stellen die massive Verbreitung der Syphilis in Shanghai fest. Zunehmender Wohlstand sorgt für das Comeback einer Seuche.
Fünfzig Jahre ist es her, dass die Volksrepublik China unter Mao Tse-tung die größte von Menschen ausgelöste Hungersnot der Geschichte erlebte - zwischen 20 bis 40 Millionen Menschen starben. Im Sog dieser Katastrophe unbemerkt blieb indes eine echte Errungenschaft Maos: Der "Große Sprung nach vorn" machte in China den Syphilis-Erregern den Garaus - ein Ereignis, an das sich in Shanghai heute nur noch die Alten erinnern.
Aktuell muss in China zwar niemand mehr hungern – aber die Bazillen sind in noch nie dagewesenem Ausmaß wieder da. Massiver Wohlstandszuwachs, konstatieren nun die Epidemiologen Joseph D. Tucker, Xiang-Sheng Chen und Rosanna W. Peeling im Fachblatt New England Journal of Medicine, habe der Syphilis zum ultimativen Comeback verholfen.
Auch Kinder betroffen
Tatsächlich lieferte die Auswertung offizieller Daten des National Center for STD Control in Nanjing Hinweise auf eine Lage, die außer Kontrolle zu geraten scheint. Allein im Jahr 2008 kam in China jede Stunde ein durch die Mutter mit Syphilis infiziertes Baby zur Welt, 9480 erkrankte Kinder wurden auf diese Weise geboren. Auf alle Altersgruppen bezogen stieg die Inzidenzrate sogar um den Faktor 12 an – und das innerhalb von nur fünf Jahren.
Die Vorstellung, dass der winzige Erreger der Wirtschafts-Supermacht gefährlich werden könnte, avanciert zum realen Horrorszenario. Denn wer an Syphilis erkrankt, schreiben die Autoren der NEJM-Publikation, kann mit weiteren Komplikationen rechnen. So infizieren sich Syphilis-Patienten erfahrungsgemäß häufiger und schneller mit HIV, und übertragen die Aids-Viren alsbald an die nächsten Geschlechtspartner. Bis zu 50 Prozent der mit Syphilis-Erregern infizierten Neugeborenen können an Spätfolgen während der Kindheit versterben. Und die Hälfte aller infizierten Schwangeren verliert das Kind noch im Mutterleib.
China-Plot für den Erreger
Die Expansion der chinesischen Syphilis-Epidemie sei ein Lehrstück über den Einfluss von Wohlstand auf sexuell übertragbare Erkrankungen, folgern Tucker und seine Kollegen. Eine aufkeimende Sexindustrie, Geschäftsleute mit Geld und die zunehmende Lust auf ungeschützten Sex sind offenbar die Mixtur, die den Bakterien zum Siegeszug verhalf. Die Expo verdeutlicht dabei das Problem. „Better City Better Life“ lautet das Leitmotiv der Weltausstellung 2010 in Shanghai und begeistert nach wie vor die deutsche Politik. "Neue Perspektiven des Gleichgewichts zwischen dem natürlichen Lebensraum und dem pulsierenden Leben in Metropolen" zeige die Weltausstellung bis zum 31. Oktober 2010, lässt die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen wissen, und verweist in gleichem Atemzug auf die „Berlin Days, die außerhalb der EXPO in Shanghai und Shenzhen stattfinden". Doch die totale globale Party birgt sexuelle Risiken. Was die Autoren des NEJM-Artikels nämlich besorgt, ist ein zusätzlicher Aspekt des kunterbunten Treibens: Die Mechanismen aus China sind auf andere Länder übertragbar, und erreichen die westliche Welt.
So berichtete ein Team um Thomas L. Patterson vom UCSD Department of Psychiatry and the Veterans Administration Health Care System in San Diego über die Zunahme der Infektionen auch an der Grenze zu Mexiko. Die am 27. April im Fachblatt Addiction veröffentlichte Arbeit nahm die Grenzstädte Tijuana und Ciudad Juarez unter die Lupe, die in unmittelbarer Nähe der Großstädte San Diego und El Paso liegen. Ungeschützter Sex mit Prostituierten, Drogenkonsum und gemeinsam genutzte Spritzen machen den US-Ärzten ebenfalls zu schaffen – und wieder ist der Syphilis-Erreger Sieger des globalen Geschlechtsverkehrs. Für das Reich der Mitte kommt ein ganz spezielles Problem hinzu. Ein Drittel der Männer, die Sex mit Männern praktizieren, führen ein perfektes Doppelleben. Auch die Kunden des horizontalen Gewerbes leben nach diesem verhängnisvollen Plot: Der kondomlosen Lust folgt das solide Familienleben, ungeschütztes Liebesleben mit der Partnerin inklusive. Genau das, stellen die Epidemiologen im NEJM jetzt fest, führt zu Kindern, die bereits bei der Geburt an der Seuche erkrankt sind. Die Weltausstellung in Shanghai wird diesen Trend nicht mindern – im Gegenteil. Über 600.000 Chinesen leiden mittlerweile an der unheilvollen Erkrankung – unter Mao betrug ihre Zahl noch Null.