Die Entbindungsstation eines Krankenhauses bedeutet für viele Menschen süße Babys und glückliche Familien. Die Neonatologie hingegen ist nur wenigen Laien ein Begriff: in der pädiatrischen Intensivmedizin kümmert man sich um die kleinsten der Kleinen und stößt dabei an moralische und medizinische Grenzen.
Im Februar 2010 habe ich eine Famulatur auf der neonatologischen Station meines Universitätsklinikums in Göttingen gemacht. Es war schon seit Beginn der Klinikphase mein Wunsch, der pädiatrischen Intensivmedizin näher zu kommen und so bot sich eine hervorragende Möglichkeit, genau dies zu tun. Die Bewerbung erfolgte problemlos über das Sekretariat vom Chefarzt der Kinderkardiologie und –intensivmedizin.
Erwartungen
Mir war vor Beginn der vierwöchigen Famulatur bereits klar, dass ich mich auf eine Erfahrung würde einlassen müssen, die mit einer Enttäuschung enden könnte: Mein bisher als potenzielles Studienziel angesehenes Fachgebiet, könnte schließlich am Ende doch nicht so attraktiv sein wie gedacht. Was mir nicht bewusst war, war die Tatsache, dass mich diese Erfahrung an die Grenze zwischen Faszination und moralischen Bedenken in der Intensivmedizin bringen würde.
Faszination und winzige Venen
Ich erschien also am ersten Morgen meiner Famulatur mit großen Erwartungen und der üblichen Nervosität vor neuen Aufgaben vor den großen Türen zur neonatologischen Intensivstation. "Betreten verboten – Intensivbereich" prangte mir entgegen, und es kostete tatsächlich etwas Überwindung, die Taste des Türöffners dennoch zu betätigen. So weit, so gut, dann stand ich also da und erblickte dank vorher erfolgter Internetrecherche auch sogleich das Gesicht des mir zugeteilten Oberarztes. Er schien mich zu erwarten, was die Sache doch deutlich erleichterte. Zunächst folgte eine Umziehprozedur und dann stand ich schließlich bewaffnet mit Ministethoskop und blauer Montur im Gang. Meine Neugier war mindestens ebenso groß wie meine Sorge davor, ob ich mit der hier praktizierten Medizin würde umgehen können.
Nach der Vormittagsbesprechung begann der Tag für mich erst richtig. Ein Rundgang auf der Station führte uns nacheinander durch die fünf Zimmer der Station in denen zwischen drei und sechs Frühgeborene untergebracht waren. Zu dieser Zeit kümmerten sich drei Schwestern, ein Arzt, ein Zivildienstleistender sowie einige Schwesternschülerinnen und wir drei Studenten um rund 18 Kinder.
Die Zimmer sind nicht groß und dennoch wirken die winzigen Kinder völlig verloren in den mit Elektronik vollgestopften Räumen. Allein an den Lautstärkepegel muss man sich wirklich erst gewöhnen und es dauert eine Zeit, bis man ein gefährliches von einem harmlosen Piepen unterscheiden kann. Die meisten Frühchen liegen in Brutkästen. Diejenigen, die bald entlassen werden in Plastikschalen, so genannten Wärmebetten, quasi ohne den Brutkastendeckel.
Es gibt kein einziges Kleidungsstück, das den teilweise nur 500g leichten Wesen passt, von den Windeln ganz zu schweigen. Jedes Kind trägt Infrarotsättigungssensoren um den Fuß, viele bekommen Sauerstoff und jedes hat eine Nasensonde, denn die Wenigsten sind in der Lage die winzigen aber nötigen Mengen zu trinken.
Arbeit bei den Winzlingen
Die ersten Tage verbrachte ich bei den nicht beatmeten Frühchen. Alltägliche Aufgaben waren hier neben der Nahrungsberechnung und zahllosen Perzentilen für Wachstum und Gewicht die täglichen Blutabnahmen im Miniaturformat sowie nie enden wollende Konsilanträge für Augenärzte, plastische Chirurgen oder auch Terminabsprachen für das Sozialpädagogische Klinikzentrum. Tägliche Untersuchungen, die Neuberechnung von Medikamentendosen und Elterngespräche bestimmten den Alltag ebenso wie der ein oder andere Ruf "Auf geht’s, die Studenten mit in den OP, wir holen ein Frühchen!".
In dem anderen Bereich der Station waren die Kinder noch kleiner, es führten noch mehr Kabel zu jedem Bettchen und hier war zu jedem Zeitpunkt eine Schwester oder ein Intensivpfleger im Raum. Das größte Problem der Kleinsten ist die unfertige Lunge, selbst nach Surfactantgabe und intrauterin über die Mutter verabreichter „Lungenreife“ haben die meisten Kinder zwischen der 24. und 36. Schwangerschaftswoche massive Atemprobleme.
Viele Frühgeborene haben bereits in der Schwangerschaft Auffälligkeiten gezeigt, die die Ärzte vorsichtig sein ließen und somit die Möglichkeit einer erwarteten Frühgeburt gaben. Auch dann sind die Risiken natürlich groß, dass nicht alles so reibungslos läuft, wie bei einer Geburt ab der 37. Schwangerschaftswoche, aber man ist zumindest seitens der Ärzte und der Mütter vorbereitet.
Die möglichen Gründe für Frühgeburten sind vielfältig. Auch hier bin ich an meine Grenzen gestoßen hinsichtlich dessen, was man als Schicksal und was als mutmaßliche Inkaufnahme von Risiken für das Kind ansehen kann. Ich habe drogenabhängige Mütter erlebt, deren Kinder die ganze Station zusammen geschrieen haben, weil sie als Allererstes in ihrem Leben einen Entzug durchmachen mussten, dem die wenigsten Erwachsenen standhalten würde. Ich habe gedacht, dass ich nach Kenntnis der Krankengeschichte mein Urteil gegenüber diesen verantwortungslosen Menschen gefällt hätte und musste dann feststellen, dass sich genau diese Personen auf Station liebevoll und sorgsam tagtäglich um ihre Kinder gekümmert haben, während andere Mütter mit eigentlich stabilem sozialem Hintergrund lieber ihr Haus eingerichtet haben, anstatt zu lernen, wie man ein Kind mit Nasensonde ernährt.
Manche Eltern waren derart überfordert mit ihren Kindern (es waren auch zwei Elternpaare mit Drillingen dabei), dass ich immer das Gefühl hatte, ohne die Schwestern und die Unterbringung auf Station wäre ein heilloses Chaos ausgebrochen. Manche Mutter verfiel regelrecht in Panik, wenn mein Stationsarzt ihr mitteilte, dass sie ihr Kind nächste Woche mit heim nehmen dürfe. Da war noch kein Bettchen gekauft, das Füttern klappte nicht richtig und vor allem die Angst vor der Verantwortung wiegt oft schwerer als man denkt.
Als Studentin ist man schon aufgeregt, wenn man allein eine der zahllosen U-Untersuchungen machen darf, Reflexe testen oder aus den wirklich stecknadeldünnen Venen Blut abnehmen soll. Wie sollen sich da Eltern fühlen, die Monate lang mit ansehen, wie ihr winziges Kind nur von Maschinen und spezialisierten Fachkräften am Leben gehalten wird?
Genau hier setzten meine moralischen Zweifel an, denn so fasziniert ich von den Möglichkeiten der Medizin in diesem Bereich nach wie vor bin, so sehr sehe ich, wie wichtig die Einhaltung von Grenzen gegenüber den Patienten und dem Leben an sich sein kann. Die Forschung und der Fortschritt der Technik ermöglichen unter anderem mit Hilfe von CPAP-Beatmung, Brutkästen und Surfactant den Frühchen ein Heranwachsen in einer künstlich geschaffenen Körperhöhle. All dies finde ich phantastisch und denke, dass ein Kind, welches einfach auf Grund eines ungünstigen Zufalls zu früh geboren wird, jede Hilfe bekommen sollte, die möglich ist. Aber gilt das immer und für jedes Frühchen?
An einem Nachmittag ging es plötzlich sehr hektisch zu. Gegen fünf Uhr kam der Frühchenwagen (eine Art Notfalltrage mit Brutkasten, Beatmungs- und Reanimationsutensilien für die Erstversorgung nach der Geburt) in Begleitung von Oberarzt und zwei Assistenzärzten auf unsere Station. Alle wirkten sehr gestresst und regelrecht geschockt. Dies war keine geplante Sectio eines Babys, so viel war klar. Unser Stationsarzt kam und klärte uns auf, dass man soeben das Baby als Notkaiserschnitt in der 24.Woche hätte holen müssen, da die Mutter nach einem Verkehrsunfall so schwer an der Wirbelsäule verletzt war, dass man weder für die Sicherheit des Ungeborenen noch für ihre eigene hätte garantieren können.
Das Kind war winzig, dunkelrot und absolut nicht fertig für diese Welt. Kein Nagel war richtig angelegt, die Augen waren geschlossen, es wirkte auf Grund seiner Winzigkeit fast alt. Seltsamer Weise fühlte ich eher Mitleid als Schock. Später am Abend wurden Hirnblutungen vierten Grades diagnostiziert, weder Herz noch Lunge waren gesund und über Nacht wurde die winzige Patientin mehrfach reanimationspflichtig. Man kann sich die Bemühungen der Schwestern und Ärzte sicher gut vorstellen, es wurde quasi pausenlos diskutiert, was man ändern oder optimieren könnte, immer wieder unterbrochen von den bangen Fragen nach der Richtigkeit des eigenen Handelns. Nicht alle Ärzte haben diskutiert, natürlich gab es die, für die das einzig Richtige die maximale Therapie ist und das würde ich auch gar nicht verurteilen. Aber im Stillen war ich froh, dass nicht nur ich mich gefragt habe, wie weit der Wille zur Lebenserhaltung gehen darf.
Auch die Mutter durfte nach der eigenen OP ihr Kind sehen und der Vater pendelte zwischen dem Krankenbett der Mutter und dem des Kindes. Die Eltern schienen mir seltsam gefasst und natürlich auch sehr erschöpft. Die verantwortlichen Ärzte haben ihnen in aller Ruhe und gut verständlich die Chancen für ein Überleben ihres Kindes erklärt. Letztendlich ist das Frühgeborene nach vier Tagen verstorben, da man sich mit den Eltern verständigt hatte, die zahllosen Reanimationen nicht mehr weiterzuführen.
Fazit
Mich hat dieser Fall natürlich sehr traurig gemacht, er hat mir aber auch gezeigt, dass man trotz aller Technik eben manchmal die Grenzen der Natur nicht überschreiten kann. Das mag vielen von euch nicht neu sein und sicherlich kann man eben diese Erfahrungen auch auf ganz anderen Stationen mit ganz anderen Patienten sammeln.
Mein Fazit ist dennoch ein Positives: Ich habe so einige Grenzen überwunden, die für andere vielleicht keine darstellen mögen, für mich aber doch ganz eindrucksvoll waren. Man muss nämlich erstmal so einem Winzling in den Kopf stechen, bevor man das als Routine abtun kann. Ich habe erlebt, dass man in den Möglichkeiten der Technik aufgehen kann und einen die Faszination für die Macht der Medizin dahin bringen kann, dass sich eigene Moralgrenzen verschieben. Zum Glück sind mir jedoch genug erfahrene Mediziner begegnet, die trotz der Vielfalt an Möglichkeiten der Intensivmedizin immer noch ihren gesunden Menschenverstand und ihr Feingefühl gebrauchen, wenn sie die Grenzen des Vertretbaren erreichen.
Ich vermag nicht zu beurteilen, was schwieriger ist, die Intensivmedizin der Neonatologie korrekt und in ihrer Leistungsfähigkeit am Limit zu praktizieren, oder im richtigen Moment auch aufgeben zu können, um sich selbst und dem Grundgedanken unseres Berufes treu bleiben zu können.
Ich denke, dass man diese Erfahrungen mit keiner Vorlesung oder Lehrveranstaltung jeglicher Art ersetzen kann und dennoch ist sie so wichtig, weil genau diese Art der Verantwortung für unseren Beruf und seine Möglichkeiten unerlässlich ist.