Kinderkrankheiten wie Masern und Mumps sind wieder auf dem Vormarsch – und ein gutes Wahlkampfthema. Politiker diskutieren kontrovers über Sinn oder Unsinn einer Impfpflicht. Empfinden es die einen als Eingriff in die Grundrechte, sehen die anderen den kollektiven Nutzen.
Laut Angaben des Robert Koch-Institutes (RKI) in Berlin haben sich seit Beginn des Jahres bereits mehr als 450 Menschen mit Masern infiziert, darunter auch über 50 Säuglinge. „Erkrankungen im Säuglingsalter verlaufen anfangs oft ohne die typischen Symptome und erscheinen zunächst eher harmlos“, warnt Dr. Martin Terhardt, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt aus Berlin. „Leider wissen wir, dass diese Infektionen gerade nach Erkrankung in den ersten Lebensjahren nicht selten zu gravierenden Spätfolgen führen können.“
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) äußert sich im Gespräch mit RP Online detailliert zur Kontroverse: „Vor der Aufnahme in eine Kita muss eine ärztliche Impfberatung nachgewiesen werden.“ Ab Mitte 2017 sollen Kitas Gesundheitsämtern melden, falls Eltern die Impfberatung verweigern. „Das versetzt die Gesundheitsämter in die Lage, gezielt auf diese Eltern zuzugehen“, so der Politiker weiter. „Wir haben bereits festgelegt, dass ungeimpfte Kinder und Erwachsene zeitweise vom Besuch einer Kita oder Schule ausgeschlossen werden können, um einen größeren Ausbruch von Masern oder Mumps zu verhindern.“ Den Erfolg seiner Maßnahmen will er „sehr genau beobachten“, denn die Impflücken seien noch immer zu groß. Seine Strategie stößt in den eigenen Reihen nicht nur auf Zustimmung. Rainer Bensch, ein CDU-Gesundheitspolitiker aus Bremen, kann sich verpflichtende Maßnahmen gut vorstellen. Kinder, die nicht richtig geimpft seien, sollten in Zukunft keinen Kita-Platz mehr bekommen, sagte Bensch.
Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) teilt Benschs Meinung nicht: „Eine Impfpflicht bedeutet einen erheblichen Eingriff in das im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und bei Kindern in das Sorgerecht der Eltern.“ Dieser Schritt könne „nur als Ultima Ratio“ in Erwägung gezogen werden, sinnvoller seien zunächst „Information und Beratung“.
Bereits vor zwei Jahren kam die Linke zu ähnlichen Bewertungen. Dass Impfungen sowohl einen individuellen als auch einen kollektiven Nutzen hätten, stünde außer Frage. „Ein zwangsweiser Eingriff in die körperliche Integrität ist ethisch und auch verfassungsrechtlich immer problematisch.“ Deshalb setzt die Partei auf „freiwillige und informierte Entscheidung der einzelnen Menschen“. Die Partei will unter anderem Hebammen und Ärzte berufsrechtlich zur Beratung verpflichten.
Ähnliche Einschätzungen kamen Anfang 2015 von den Grünen. Für Kordula Schulz-Asche, Sprecherin für Prävention und Gesundheitswirtschaft, ist die Impfpflicht wenig zielführend. Sie fordert, jeder Kontakt zum Gesundheitssystem müsse genutzt werden, um den Impfstatus zu überprüfen. „Darüber hinaus braucht der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) Aufwertung und bessere personelle Ausstattung. Denn er hat Zugang in die Alltagswelten wie Kita und Schule und kann auch bei Eltern- und Gesundheitstagen aufklären.“ Dies setze Bürokratieabbau voraus.
Liberalen geht das alles nicht weit genug. Auf Initiative der Jungen Liberalen (Julis) wurde beim letzten Bundesparteitag eine allgemeine Impflicht für Kinder bis 14 Jahren beschlossen. „Denn auch das Erziehungsrecht der Eltern kennt Grenzen, wenn es zulasten des Wohlergehens und der Gesundheit des Kindes geht“, heißt es im Antrag. „Kinder sollten deshalb zum Schutze ihrer körperlichen Unversehrtheit ein Recht auf Impfschutz erhalten.“ Die nötigen Impfungen sollen sich an Empfehlungen der ständigen Impfkommission orientieren. Liberale sehen Pädiater in der Verantwortung, Eltern zu informieren.
Bei Health Professionals rennen Eltern offene Türen ein – auch der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte verlangt Pflichtimpfungen. Primär geht es um den Masernschutz. „Aus ärztlicher Sicht kann man von unterlassener Hilfeleistung und von Vernachlässigung elterlicher Fürsorgepflicht sprechen, wenn man einem Kind den derzeit möglichen Schutz vor impfpräsentablen Erkrankungen vorenthält“, sagte Präsident Thomas Fischbach dem FOCUS. „Wer sich impfen lässt, schützt nicht nur sich selbst, sondern auch alle Menschen, die mit ihm in Kontakt treten – dies ist ein Gebot der Solidarität aller mit allen.“ Bei der Umsetzung spielen nicht nur medizinische, sondern auch juristische Aspekte eine Rolle.
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, steht im Grundgesetz (GG), Artikel 2. Kurz darauf heißt es aber: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Mit entsprechenden Konflikten haben sich die Wissenschaftlichen Dienste am Deutschen Bundestag befasst. „Ein Eingriff in ein Grundrecht ist immer dann gegeben, wenn eine unmittelbare, zielgerichtete Beeinträchtigung des Schutzbereiches erfolgt“, lautet ihre Einschätzung. Dies treffe zwar auf Impfungen zu. Allerdings könne per Gesetz eingegriffen werden. „Ein solcher Eingriff wäre verhältnismäßig, sofern damit ein legitimes Ziel verfolgt wird und der Eingriff ferner geeignet, erforderlich und angemessen ist“, schreiben die Experten weiter. Dass Impfungen ihr Ziel erreichen, steht wissenschaftlich außer Frage. Begriffe wie „erforderlich“ oder „angemessen“ beinhalten jedoch große Ermessensspielräume der Regierung. Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Dienste vom GG sehen insgsamt keine unüberwindlichen Hürden.