Opioide wirken bei Patienten mit chronischen Schmerzen und ohne Tumor nur wenig besser als andere Medikamente, so neue Studien-Auswertungen. Ärzte müssen umdenken - eine neue Leitlinie könnte die Ära der vermeintlichen Wundermittel beenden.
Die Untersuchung der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (DGSS) dürfte den Praxisalltag vieler Allgemeinmediziner in Punkto Schmerztherapie wesentlich verändern. "Von zu großen Hoffnungen auf die Wirkung von Opioden bei chronischem Schmerz müssen wir uns verabschieden und uns mehr auf schädliche Nebenwirkungen wie Suchtpotential, Aufmerksamkeits- und Antriebsstörungen konzentrieren", erklärte Christoph Stein, Direktor der Klinik für Anästhesiologie der Charité und Freien Universität Berlin und Mitglied des DGSS-Expertengremiums.
Der vernichtende Befund basiert auf harten Fakten. Vor fünf Jahren hatte die DGSS bereits eine S3-Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS) in Auftrag gegeben. Für die Analyse und Bewertung wurde aus 16 deutschen Fachgesellschaften und Patientenverbänden ein 35-köpfiges Experten-Team gebildet, das „nach strengsten wissenschaftlichen Maßstäben“ die hochwertigsten Studien aus über 960 Veröffentlichungen in wissenschaftlich begutachteten Fachzeitschriften auswählte. Darin wurden über 18.000 Patienten in randomisiert, doppelblind und kontrolliert durchgeführten Vergleichen untersucht. Diese Daten wiederum analysierten die Fachleute nach der Cochrane-Methodik. Dabei verglichen die Experten mit Hilfe von statistischen Verfahren die schmerzstillende Wirkung von Opioiden und ASS-ähnlichen (NSAIDs) Medikamenten. „Bei Langzeitanwendung erwirkte jedes dieser Medikamente für sich alleine zwar eine statistisch signifikante, aber insgesamt nur relativ geringe Schmerzlinderung“, resümiert heute die DGSS die Crux mit den Opioiden.
Die Erkenntnisse erwiesen sich als so tiefgreifend, dass die Fachleute nach den festgelegten Regeln der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) neue Behandlungsempfehlungen für Patienten mit chronischem, nicht durch Tumorerkrankungen verursachtem Schmerz entwickelten. Darin empfehlen sie mitunter, die Medikation „für jeden Patienten individuell festzusetzen und immer auch begleitende Maßnahmen wie Problemlösestrategien, Verhaltens- oder Physiotherapie einzusetzen“.
Je stärker, desto wirkungsloser?
Das Papier hat es ohnehin in sich. "Das Ergebnis dieser S3-Leitlinie wird die Fachwelt noch lange beschäftigen", schätzt Rolf-Detlef Treede, Präsident der DGSS. Denn vor allem die vermeintlich besonders stark wirksamen Opioide linderten außerhalb ihres klassischen Anwendungsbereichs wie Schmerzen nach Operationen und Tumorschmerzen die Pein der Patienten „nicht wesentlich besser als andere Medikamente“. Im Gegenteil: Bei länger dauernder Einnahme schwächt sich die Wirkung der Opioide laut DGSS „offensichtlich sogar eher noch ab“. Von einer Daueranwendung mit opioidhaltigen Analgetika sollten Ärzte so oder so absehen, wie die Leitlinien unmissverständlich darlegen. "Nach umfangreichen systematischen Datenerhebungen an über 2400 Patienten mit CNTS in 10 unkontrollierten Studien ist es bisher nicht gelungen, die Wirksamkeit opioid-haltiger Analgetika bei Anwendungszeiträumen von länger als drei Monaten mittels publizierter Daten aufzuzeigen", heißt es dazu in dem Papier. Als noch katastrophaler erweist sich der Studie zufolge ein weiterer Aspekt: Über die für eine Neuzulassung von Medikamenten vorgeschriebene Anwendungsdauer von drei Monaten hinaus liegen so gut wie keine Daten vor.
In einzelnen Fällen könnten Patienten mit neuropathischen Schmerzen von Opioiden profitieren, wie die Leitlinien erklären. Für Migräne hingegen sei die analgetische Wirksamkeit von Opioiden zum Beispiel nicht belegt. "Fest steht: Opioide sind bei nicht-tumorbedingten Schmerzen nicht die erste Wahl", resümiert daher Treede.
Alternativen gibt es allemal. Gegen Nervenschmerz beispielsweise stehen laut Leitlinie Anti-Epileptika und Anti-Depressiva als wirksame Mittel zur Verfügung. Für die Bekämpfung von Gelenkschmerzen wiederum seien nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID, wie ASS oder Ibuprofen) und Coxibe die bessere Wahl.
Wer als Arzt trotzdem an der Wirkung der Opioide festhält darf seinen Patienten wenigstens eine ganz andere Darreichungsform empfehlen: Joggen. Denn die bei Ausdauerlauf ausgeschütteten Endorphine - körpereigene Opioide – fördern die Schmerzunterdrückung des Organismus, indem sie die Schmerzweiterleitung in den Nervenbahnen und im Gehirn beeinflussen. Was das genau bedeutet, erklärten Forscher der Nuklearmedizin, Neurologie und Anästhesie der Technischen Universität München sowie der Universität Bonn vor rund einem Jahr, nachdem sie diesen Prozess weltweit zum ersten Mal visualisiert hatten: „Die vermehrte Produktion von Endorphinen durch Ausdauerlauf könnte dem Körper also auch als körpereigenes Schmerzmittel dienen“.