Psychiater der Charité wollen Alkoholiker mit Hilfe von Baclofen trockenlegen. In einer Studie möchten sie jetzt die kürzlich in Buchform publizierte Fallgeschichte eines französischen Arztes wissenschaftlich untermauern. Sie sind nicht die ersten.
Es ist ein Standarddrehbuch aus den Annalen der Medizingeschichte: Bei einer als ziemlich hoffnungslos geltenden Erkrankung entdeckt ein Einzelkämpfer, dass ein längst bekanntes Medikament ungeahnte Wirkungen entfaltet. Er testet es an sich selbst – mit Erfolg. Und er versucht dann viele Jahre lang vergeblich, es zu etablieren, weil keiner ihm glaubt, oder weil niemand ein kommerzielles Interesse an Studien hat, oder weil das ganze Therapiekonzept nicht ins herrschende medizinische Weltbild passt. Schließlich greift doch jemand die Sache auf, und alles wird gut.
Der einsame Cowboy und sein weißer Ritter
Ganz nach diesem Schema marschiert derzeit eine Story aus dem Fachgebiet der Psychiatrie durch den deutschen Blätterwald. Anlass ist ein gerade auf Deutsch unter dem Titel „Das Ende meiner Sucht“ erschienenes Buch, das der französische Arzt Olivier Ameisen vor einem Jahr unter dem Titel „Le dernier verre“ (Das letzte Glas) in Frankreich herausgebracht hat. Er hatte sich im Jahr 2002 mit Hilfe des Medikaments Baclofen von seiner Alkoholsucht in Selbsttherapie befreit. Baclofen ist ein längst generisch erhältliches Spasmolytikum. Es wird in der Neurologie schon seit Langem eingesetzt, um Patienten mit spastischen Lähmungen Erleichterung zu verschaffen. Die Zeitschrift Stern machte aus diesen Tatsachen die übliche Geschichte von der bösen Pharmaindustrie, die kein Interesse habe, längst nicht mehr patentgeschützte Medikamente weiter zu untersuchen. Und der Spiegel fand in Professor Andreas Heinz, Direktor des Instituts für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, jenen weißen Ritter, den es brauchte, um die Story noch ein Stück weiter zu drehen: An der Charité wurden mittlerweile mehrere Alkoholiker mit Baclofen behandelt. Endlich also wird der Ruf des französischen Arztes erhört. Und das auch noch in Deutschland. Eine Studie ist geplant. Das Happy End naht.
Die Italiener waren am schnellsten
Bei genauerem Hinsehen allerdings verwandelt sich dieses schöne Märchen in eine zwar immer noch durchaus spannende, aber längst nicht mehr so theatralische Standardgeschichte aus der klinisch-medizinischen Forschung. Dass Dr. Ameisen der erste war, der auf die Idee mit Baclofen kam, ist nicht richtig. Dass jahrelang niemand auf den einsamen Rufer in der Wüste gehört habe, ist ebenso falsch. Dass nie Studien zu der Thematik gemacht worden seien, stimmt auch nicht. Mit anderen Worten: Der Verdacht, dass es bei der ganzen Geschichte im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse auch viel um PR für ein neu erschienenes Buch geht, drängt sich zumindest auf. Tatsächlich gibt es sogar ein Patent zum Einsatz von Baclofen bei Alkoholismus, das von italienischen Ärzten schon im Jahr 2000, also zwei Jahre vor Olivier Ameisens Entzug, beantragt wurde. Schon damals gab es Daten aus Tierversuchen mit Ratten, und es gab auch erste klinische Daten bei zehn männlichen Alkoholpatienten, die vier Wochen lang mit zunächst 15mg und dann 30mg pro Tag Baclofen, verteilt auf drei Einzeldosen, therapiert wurden. Sieben dieser Patienten erreichten während der Studienzeit eine vollständige Abstinenz. Auch auf einen möglichen Wirkmechanismus gab es damals schon erste Hinweise: „Die wichtigste Feststellung (…) war das Verschwinden von zwanghaftem Nachdenken über Alkohol“, heißt es in der Patentschrift. Weniger Craving, medizinisch ausgedrückt. „ Wir denken, dass der Effekt von Baclofen über den GABA-B-Rezeptor und die damit verbundene Muskelrelaxation und Entspannung vermittelt wird“, betont Dr. Jakob Hein von der Charité gegenüber DocCheck. Hein ist gerade dabei, eine größere Studie mit Baclofen zu konzipieren und zu beantragen. Im Rahmen von individuellen Therapieversuchen wurden bereits einige Patienten behandelt. Der „Spiegel“ redet von vier. Hein sagt, es seien „eher mehr“, ohne sich genauer festzulegen.
Die Botschaft lautet „Vorsicht!“
Tatsache ist, dass es klinische Daten gibt, auf denen die Berliner aufbauen können. Sie wurden sogar hochrangig publiziert. Im Dezember 2007 berichtete der römische Arzt Giovanni Addolorato, einer von drei Mitinhabern besagten Patentes, in der Fachzeitschrift The Lancet (2007; 370: 1915) darüber, dass Baclofen die Alkoholabstinenz bei Patienten mit Leberzirrhose unterstütze. Es handelte sich um eine Studie mit 148 Patienten, von denen letztlich 84 nach einem Entzug in randomisiert-kontrolliertem Doppelblinddesign mit Baclofen oder mit Placebo therapiert wurden. 71 Prozent der Patienten in der Behandlungsgruppe hielten die absolute Abstinenz durch, gegenüber 29 Prozent in der Placebo-Gruppe. Die Patienten in der Baclofen-Gruppe waren außerdem mit 62,8 Tagen mehr als doppelt so lange alkoholabstinent wie die Patienten in der Placebogruppe.
Das hört sich alles erst einmal gut an, aber es gibt ein paar Einschränkungen. Zum einen ist Baclofen nicht nebenwirkungsfrei. Auch gibt es bereits Medikamente, die das Craving reduzieren, ohne das Problem der Alkoholsucht gelöst zu haben. Es fehlen außerdem Langzeitdaten, die etwas darüber aussagen würden, welcher Anteil der Patienten nach einem Jahr wirklich noch abstinent ist. Addolorato und seine Kollegen werden diese Daten haben. Dass sie bisher nicht schriftlich publiziert wurden, ist zumindest kein gutes Zeichen. Und noch etwas stört: Die Realität der Psychiatrie ist gekennzeichnet durch alkoholabhängige Patienten mit psychiatrischen Comorbiditäten. Sie wurden in Addoloratos Studie ausgeschlossen, was die auffällige Divergenz zwischen 148 Studienteilnehmern und nur 84 letztlich randomisierten Patienten erklärt. Konsequenterweise mahnt dann auch Jakob Hein von der Charité explizit zur Zurückhaltung: „Wir haben hier kein Wundermittel. Wir empfehlen das niemandem weiter. Unsere Botschaft lautet: Vorsicht. Vorsicht. Vorsicht.“