Mit zunehmendem Abstand vergehen Erinnerungen an Vergangenes. Das Gehirn baut den Hippocampus als Erinnerungszentrum nicht um, sondern erweitert mit neuen Nervenzellen die Kapazität. Ein Block hält alte Erinnerungen am Leben.
Flüchtig wie eine blasse Erinnerung. Bildlich beschreibt dieses Sprichwort, wie sich Menschen noch vor einigen Jahren unser Gedächtnis vorstellten. Informationen werden gespeichert und mit der Zeit wird es immer schwieriger, darauf zuzugreifen. Nur ausgewählte Fetzen unserer Erlebnisse bleiben im Langzeitgedächtnis. Zwei Publikationen im Abstand weniger Wochen im renommierten Fachjournal Cell zeigen jedoch, dass Erinnerungen wohl nicht langsam verblassen. Die Informationen lagert unser Gehirn wohl ganz gezielt um und ersetzt sie nicht nur durch neue Muster, sondern baut das entsprechende Nervenzentrum mit neuen Neuronen auf.
Neue Nervenzellen - neue Erinnerungen
Kaoru Inokuchi und sein Team von der Japanischen Universität von Tokoyama zeigten Ende letzten Jahres an Ratten, dass im Hippocampus neue Nervenzellen mit neuen Informationen verbunden werden, während deren Gehirn alte Informationen in andere Gehirnteile wie etwa den Neocortex transferiert. Der Hippocampus spielt für die Speicherung von Sinneseindrücken und deren späteren Abruf eine zentrale Rolle. Bereits aus früheren Beobachtungen wusste man, dass das zentrale Nervensystem besonders beim Erinnern an kürzliche Ereignisse bevorzugt auf ihn zurückgreift.
Während neue Nervenzellen in anderen Gehirnteilen beim Erwachsenen kaum nachwachsen, ist das im Hippocampus anders. Hier sprießen neue Zellen aus dem neuronalen Stammzell-Saatgut. Bei Mäusen zeigten nun die Forscher, dass genau diese nachwachsenden Neuronen neue Erinnerungen ausmachen und damit alte ersetzen. Hemmt man die Nervenzell-Produktion mit Bestrahlung oder per Gentechnik, so speichern die Nagetiere ihre Erinnerungen wie etwa Angst vor bestimmten Situationen sehr viel länger. Wie die Forschergruppe jedoch auch herausfand, fördert Sport - in dem Fall ein Laufrad-Training der Mäuse - die Bildung neuer Neuronen-Speichermodule im Hippocampus, ohne dass alte Erinnerungen verblassten. Diese Mäuse griffen dann aber nicht mehr auf diese Hirnregion zu. „Die Kapazität für gespeicherte Erinnerungen im Hippocampus“, so Kaoru Inokuchi, „ist begrenzt, aber Sport kann auf diese Weise die Gesamtkapazität erhöhen.“
Vergessen dank RAC
Eine zweite, neue Publikation beschäftigt sich ebenfalls mit Erinnerungen und bestätigt in einem weiteren Tiermodell das Modell der Japaner. Yi Zhong aus Peking und seine Kollegen machten sich auf die Suche nach den Stoffwechselprozessen beim Vergessen und fanden ein Schlüsselenzym namens „RAC“, ohne dass es scheinbar kein (so leichtes) Vergessen gibt. Blockierten die Forscher den RAC-Stoffwechselweg in Fliegen, dann blieben nicht nur die Erinnerungen an unangenehme Düfte und begleitende schwache Elektroschocks sehr viel länger wach. Auch das Leben der Insekten verlängerte sich von normalerweise einigen Stunden bis auf mehr als einen Tag. Schüttete das Fliegengehirn jedoch mehr RAC aus, verflogen auch die Erinnerungen viel schneller und die Labortiere tappten schnell wieder in die Duftfalle.
Stammzellen gegen Alzheimer und Schlaganfall?
Bereits 2007 hatte eine amerikanische Gruppe nachgewiesen, dass sich Gedächtnisausfall bei Mäusen durch den Einsatz von neuronalen Stammzellen zumindest teilweise kitten lässt. Allerdings müssen die neuen Neuronen dort einige Wochen reifen, bevor sie aktiv zum erweiterten Erinnerungsvermögen beitragen. Dennoch könnten sie vielleicht einmal helfen, Ausfallerscheinungen wie bei Alzheimer oder Schlaganfall zu therapieren. Die Wege zur Entdeckung des Stoffs, aus dem Erinnerungen bestehen, sind aber wohl ziemlich verschlungen. So sind Menschen mit einem hohen RAC-Spiegel eher geistig zurückgeblieben. Und dass ein großer Speicher für Erinnerungen nicht immer von Vorteil ist, zeigt das Beispiel von Jill Price. Die Amerikanerin mit dem scheinbar perfekten Gedächtnis ohne Vergessen kann sich an jedes Ereignis in ihrem Leben erinnern. Der Spiegel zitiert sie mit den Worten: „Ich schaue nicht mit Abstand auf die Vergangenheit zurück; es ist eher so, als ob ich alles immer wieder erlebe, es löst genau dieselben Gefühle in mir aus. Es ist wie ein endloser, wirrer Film, der mich völlig überwältigen kann. Und es gibt keine Stopptaste.“ Möglicherweise ändert sich das in einigen Jahren.