Ist es nur ein Einzelfall und ein Delikt der viel beschworenen Kategorie "schwarze Schafe"? Oder weist die jüngste Betrugsanklage gegen eine Ärztin nur auf die Spitze eines Eisbergs in einem Meer von korrupten Medizinern, Apothekern und anderen Heilberuflern?
Fest steht: Wieder einmal hat sich ein Weißkittel vor schwarzen Roben zu verantworten. Die Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen – angesiedelt bei der hessischen Generalstaatsanwaltschaft - hat gegen eine 54-jährige niedergelassene Ärztin aus Frankfurt Anklage wegen gewerbsmäßigen Betrugs und Urkundenfälschung in 77 Fällen erhoben. Der Vorwurf: Die Praxisinhaberin hat zwischen November 2002 und Februar 2006 Rechnungen für ärztliche Behandlungen und Rezepte über Medikamente bei ihrer Krankenversicherung abgerechnet, die angeblich sie und ihre siebenköpfige Familie betrafen. Dafür hatte sie Briefbögen und Stempel ihres ins Ausland verzogenen Praxisvorgängers gefälscht. Der Schaden bei der Krankenversicherung der Ärztin beläuft sich laut Staatsanwaltschaft auf etwa 100.000 Euro.
Rechnungen fingiert, Geld kassiert und dann gerecht geteilt
Die Ermittler kamen in diesem Fall nicht nur der Ärztin auf die Schliche, sie konnten auch einem Augenarzt aus Baden-Württemberg das Handwerk legen. Bei der Durchsuchung ihrer Praxisräume stießen sie nämlich schnell auf Briefe mit verdächtigen Absprachen zwischen den beiden. Und der Ophthalmologe bekam schon bei der Razzia seiner vier Wände feuchte Augen und weiche Knie. Er gestand, seine private Krankenversicherung mit Hilfe besagter Komplizin betrogen zu haben. Der Deal lief mindestens in fünf Fällen so: Die Frankfurter Ärztin erstellte fingierte Rechnungen über angebliche Behandlungen des Augenarztes und seiner Ehefrau. Und der Kollege ließ sich diese Rechnungen dann von seiner Kasse erstatten. Das Geld – insgesamt rund 8.300 Euro – wurde dann gerecht durch drei geteilt.
Der Augenarzt wurde bereits rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt – seine hessische Kollegin darf mit einer noch härteren Strafe rechnen. Neben der Anklage wegen Bandenbetrugs und Urkundenfälschung ist von der Staatsanwaltschaft auch ein vorläufiges Berufsverbot beantragt worden.
Abrechnungsbetrug: In Summe geht es um Milliarden
Immer wieder und scheinbar immer öfter kommen derartige Abrechnungsbetrügereien ans Tageslicht. In Summe geht es dabei um Milliarden, wenngleich die Einschätzung des dadurch verursachten Schadensausmaßes – je nach Blickwinkel - stark differiert. Während zum Beispiel Transparency International von 20 Milliarden Euro pro Jahr spricht, die dem 250-Milliarden-Markt deutsches Gesundheitswesen verloren gehen, nennen die Krankenkassen einen Betrag von circa einer Milliarde. "Es dürfte irgendwo dazwischen liegen", sagt Alexander Badle, der Leiter der Zentralstelle für Korruption im Gesundheitswesen in Hessen in einem Telefoninterview mit DocCheck. "Für unsere Arbeit ist das aber eigentlich gar nicht relevant – jeder durch Betrug verlorene Euro ist einer zu viel."
Nicht zuletzt deshalb wurde in Hessen im Oktober letzten Jahres diese Sonderabteilung der Generalstaatsanwaltschaft eingerichtet. Die Frankfurter Staatsanwälte in dieser Abteilung ermitteln ausschließlich in Sachen Vermögensstraftaten. Es geht um materielle Fehlallokationen, also keinesfalls um Körperverletzung im Sinne von ärztlichen Fehldiagnosen oder -therapien.
Auch Privatversicherungen werden abgezockt
Badle: "Die meisten Fälle, denen wir nachgehen, liegen im Bereich Abrechnungsbetrug, wenn gesetzlich versicherte Patienten etwa gar nicht behandelt werden, die Leistungen aber bei der KV eingereicht werden. Auch falsch abgerechnete, überzogene Privatleistungen kommen häufig vor." Wie kommen die Justizbehörden den Tätern auf die Schliche? "Die meisten Hinweise auf Betrug und Korruption kommen von den Kassen und den KVen", sagt Badle. "Strafanzeigen aus diesen Quellen machen rund 90 Prozent aus. So greifen wir etwa auf Plausibilitätsprüfungen zurück und leiten Ermittlungen ein, wenn die Zeitprofile eines Arztes beispielsweise 18 bis 20 Arbeitsstunden am Tag ergeben." Und woher kommen die restlichen zehn Prozent? Badle schmunzelt "hörbar" ins Telefon: "Das sind enttäuschte Mitarbeiter, geschiedene Ehefrauen, konkurrierende Kollegen – die üblichen Verdächtigen also."
"Alle machen sich die Schwächen des Systems zunutze"
Für Transparency International geht es beim Stichwort Korruption im Gesundheitswesen um wesentlich mehr, als um Abrechnungsbetrug. Auf der Website des gemeinnützigen Vereins liest sich dies so: "Missbräuchliches Ausnutzen der Intransparenz im Gesundheitswesen geschieht durch alle Beteiligten. Warenanbieter von Pharmazeutika und Medizingeräten, Leistungserbringer jeder Art, Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen, Versicherte und deren Arbeitgeber – alle machen sich die Schwächen des Systems zunutze."
Insbesondere die Korruption von Ärzten und Apothekern durch Pharmafirmen wird dabei angemahnt – doch eben solche Bestechungsdelikte im Zusammenhang mit der Industrie spielen für Staatsanwaltschaften derzeit kaum eine Rolle. "Im niedergelassenen Bereich sind solche umsatzbezogenen Zuwendungen zwar berufsrechtlich unzulässig, nach geltender Rechtsprechung aber nicht strafbewehrt", erläutert Staatsanwalt Badle. "Ich glaube jedoch, dass der Gesetzgeber bald eingreifen wird, wenn die Pharmaunternehmen mit ihren umstrittenen Marketingstrategien und Incentives weitermachen wie bisher. Wenn die Firmen nicht umschwenken und sich künftig nicht stärker an ihre im Pharmakodex selbst auferlegten Regeln halten, wird dies Konsequenzen haben."
Der niedergelassene Arzt ist juristisch gesehen derzeit (noch) fein raus, wenn es um Korruption geht. Denn im deutschen Strafrecht sind die Paragraphen 331 ff. StGB (Bestechlichkeit/ Bestechung und Vorteilsannahme / -gewährung) nur auf Amtsträger anwendbar - und selbstständig tätige Ärzte unterfallen diesem Amtsträgerbegriff nicht.
Die Kernfrage: Ist ein niedergelassener Arzt Beauftragter der Kassen?
Doch diesem offensichtlichen Wertungswiderspruch geht inzwischen eine juristische Diskussion nach. Da der Bundesgerichtshof dem niedergelassenen Arzt bei der Verordnung von Arzneimitteln eine Vermögensbetreuungspflicht auferlegt, wird zunehmend die Auffassung vertreten, er mache sich – falls er für die Verordnung Zuwendungen der Pharmaindustrie erhält – wegen Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr nach § 299 StGB strafbar. "Leider", so die Meinung von Rechtsanwalt und Kassenexperte Olaf Schmitz-Elvenich während einer Transparency-Veranstaltung in Berlin, "hat sich bislang kein geeigneter Fall gefunden, in dem ein Staatsanwalt die Frage klären lassen konnte, ob der niedergelassene Arzt „Beauftragter“ der Krankenkasse im Sinne diese § 299 ist." Eine entsprechende Verurteilung hätte dabei weit reichende Folgen, zum Beispiel für das Marketing der Pharmaindustrie. Denn die diskreten Zuwendungen an die niedergelassenen Ärzte wären dann als Bestechung strafbar.
Der Erfolg der hessischen Zentralstelle zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen (sie konnte allein im zweiten Halbjahr 2009 mehr als fünf Millionen Euro an Schadensvolumen zurückführen) legt die Frage nahe, ob auch andere Bundesländer dem Beispiel folgen und eine derartige Zentralstelle einrichten werden?
"Betrug im Gesundheitswesen wird immer mehr in den Fokus rücken"
Doch Leiter Badle ist skeptisch: "Ich glaube eher nicht. Wir haben zwar viele Anfragen aus anderen Ländern, aber solch eine systematische Vorgehensweise für ein ganzes Bundesland dürfte die Ausnahme bleiben. Eine bundesweite Regelung kann es ja nicht geben, weil die Strafverfolgung reine Ländersache ist. Wahrscheinlicher ist da schon der Aufbau von Koordinierungs- und Synchronisierungsstellen zwischen den einzelnen Staatsanwaltschaften." Badles Prognose: "Betrug im Gesundheitswesen wird immer stärker in den Fokus der Exekutive rücken."
Die heißesten Fälle der letzten Jahre
Krankenhäuser entlohnen Niedergelassene für Einweisungen. Manfred Wirth, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie und Klinikdirektor in Dresden, deckt die Missstände in einem FAZ-Bericht auf und bringt eine hitzige Debatte ins Rollen.
Mehr als 3000 Ärzte an rund 600 Kliniken geraten wegen Vorteilsnahme und Korruption unter Verdacht. Vertreter mehrerer Pharma-Konzerne sollen ihnen wertlose Studien und Schiffsausflüge bezahlt haben oder überreichten das Geld gleich in bar. Die meisten Verfahren werden wegen geringer Schuld oder mit Geldauflage eingestellt.
Vorwürfe gegen ratiopharm: Außendienstmitarbeiter des Unternehmens sollen auf Anweisung des Managements tausende Ärzte bestochen haben. Der Verdacht bestätigt sich zwar, doch auf Grund gegenwärtiger Gesetze wird der Prozess eingestellt: Die Staatsanwälte argumentieren, dass der Korruptionsparagraf nur für Ärzte an öffentlichen Kliniken gelte. Ärzte mit eigener Praxis seien Freiberufler, die Zuwendungen somit nicht strafbar.
Die AOK Niedersachsen fallen Rechnungen von Dutzenden Ärzten auf. Alle beinhalten Behandlungen von Patienten, die schon Jahre auf dem Friedhof liegen. Bei Stichproben werden 140 Tote ermittelt, für die Ärzte Leistungen wie "Hausbesuche", "Erhebung des Ganzkörperstatus", "Ernährungsberatung" oder "Rückenschule" abkassierten. Die Rheinische Post spricht von Millionenschaden.
Die Dentalfirma Globudent gerät in den Fokus der Strafbehörden. Drei Managern wird vorgeworfen, billigen Zahnersatz aus China in mindestens 1000 Fällen bei den Krankenkassen zu höheren Preisen abgerechnet zu haben. Den 50-Millionen-Erlös sollen sich die Mitarbeiter der Firma und 900 Zahnärzte geteilt haben. Die Manager werden zu Haftstrafen verurteilt (Welt Online).
Die Staatsanwaltschaft Wuppertal durchleuchtet die Einkaufspraktiken von bundesweit mehr als 460 Kliniken. In 7.500 Fällen sollen Ärzte und Medizintechniker gegen persönliche Zuwendungen zum Teil drastisch überhöhte Preise bei der Bestellung von Herzklappenimplantaten oder Einrichtungen für Herz-Lungen-Maschinen akzeptiert haben. Angenommener Schaden: mindestens 28 Millionen Mark. Die Ermittlungen dauern mehrere Jahre - ein Chirurg kommt mit einer Geldstrafe davon. Ins Gefängnis muss niemand.