Rascher Morphin-Entzug führt auf Rezeptorebene und durch morphologische Änderungen der Nervenzelle zu einer Langzeitpotenzierung der Erregungsübertragung im Rückenmark und so zur Schmerzverstärkung.
Schmerzempfindung ist etwas Individuelles: Schmerzen mit derselben Ursache können von zwei Menschen unterschiedlich erlebt werden. Die Verarbeitung von Schmerzen im Nervensystem hinterlässt jedoch Spuren. Lang anhaltende oder starke Schmerzreize verändern die Nervenzellen. Es bilden sich Rezeptoren, die schon bei schwachen Schmerzreizen Signale an das Gehirn weiterleiten. Zusammengefasst bedeutet das: Der menschliche Körper verfügt über eine Art Schmerzgedächtnis, mit dessen Hilfe der Körper sich an Schmerzen erinnert, was wiederum die Schmerzwahrnehmung verstärken kann. Dieser Prozess ist ein Grund dafür, warum man durch die Verabreichung entsprechender Medikamente Schmerzen gar nicht erst entstehen lässt.
Verstärkte Schmerzempfindlichkeit
Opioide hemmen die Weiterleitung von Schmerzreizen und verhindern damit die Ausbildung des Schmerzgedächtnisses. Wegen ihrer hohen Wirksamkeit und ihrer guten Verträglichkeit werden Opioide weltweit bei Millionen Patienten eingesetzt, die unter Schmerzen leiden. Morphin ist das Opioid der ersten Wahl gegen mittlere bis starke Tumorschmerzen. Es zählt zu den zentral wirksamen Analgetika, die ihre Wirkungen durch Besetzung von Opiatrezeptoren entfalten. Opioide werden im Rahmen operativer Eingriffe, Traumata oder Entzündungen auch routinemäßig eingesetzt. Eine der großen Herausforderungen in der Schmerztherapie ist die Vermeidung oder Linderung von Nebenwirkungen. Werden Opioide beispielsweise abrupt abgesetzt, leiden manche Patienten unter einer verstärkten Schmerzempfindlichkeit am ganzen Körper. Sie ist vorübergehend, die Schmerzen beginnen jedoch unmittelbar nach dem Absetzen der Medikation. Die Folge davon ist, dass sogar Schmerzreize, die normalerweise als harmlos empfunden werden, ungewöhnlich stark und ausgesprochen unangenehm wahrgenommen werden. Besonders drastisch ist dies bei Patienten nach chirurgischen Eingriffen, weil die Operationswunden ohnehin schon beträchtliche Schmerzen verursachen. Die Wundschmerzen werden damit zusätzlich verstärkt. Eine Arbeitsgruppe der Medizinischen Universität Wien hat vor kurzem den Mechanismus entdeckt, der zu dieser Art von Schmerzempfindlichkeit führt.
Mechanismus der Schmerzverstärkung gelöst
Univ.-Prof. Dr. Jürgen Sandkühler, Neurophysiologe und Leiter des Zentrums für Hirnforschung, konnte mit seinem Team zeigen, dass der so genannte „kalte Entzug“, die Übertragung von Schmerzinformationen von einer Nervenzelle auf die nächste anhaltend verstärkt. Dr. Ruth Drdla und Mag. Matthias Gassner fanden heraus, dass eine Langzeitpotenzierung der synaptischen Übertragung (LTP) durch Entzug verschiedener Opioide in vivo als auch in vitro ausgelöst werden kann. Mit Hilfe der 2-Photonen-Laserscanning Mikroskopie gelang ihnen der Nachweis, dass die Ursache hierfür ein Anstieg der Konzentration von freien Kalziumionen in Nervenzellen des Rückenmarks ist. Kalziumionen sind ein universeller zweiter Botenstoff in Nervenzellen, der eine Reihe von Enzymen aktiviert. Die bislang aufgeschlüsselte Kette von zellulären Ereignissen umfasst die Aktivierung von G-Proteinen und von kalziumpermeablen NMDA-Rezeptoren im postsynaptischen Neuron, den Anstieg der Kalziumionenkonzentration unmittelbar nach Entzug der Opioide, die Aktivierung der Proteinkinase C und letztendlich die anhaltende Potenzierung der synaptischen Übertagungstärke in nozizeptiven C-Fasern (Schmerzfasern).
Auswege aus dem schmerzhaften Dilemma
Wenn das Opioid nicht schlagartig abgesetzt, sondern über einen längeren Zeitraum behutsam reduziert wurde, war keine Verstärkung der Schmerzsignale mehr messbar. Außerdem wird die Signalverstärkung durch die gleichzeitige Gabe eines Medikamentes verhindert, das die NMDA-Rezeptorkanäle blockiert. Dieser Rezeptortyp spielt eine Rolle beim „Schmerzgedächtnis“. Beide Maßnahmen, das langsame „Ausschleichen“ der Opioidgabe und die Blockade der NMDA-Rezeptoren verhindern die Signalverstärkung vollständig, ohne dabei die erwünschte Hemmwirkung der Opioide zu beeinträchtigen. Die neuen Erkenntnisse liefern ein weiteres Argument gegen den „kalten“ Entzug von Opiatabhängigen.