Therapien gegen Inkontinenz gab es viele, nicht alle waren wirksam oder lebensnah. Forscher berichten nun Neues: Elektrisch aktivierte Polymere sollen die Funktion eines künstlichen Musculus urethralis gewährleisten. Und auch der Chemiebaukasten wird reaktiviert.
Vor genau fünf Jahren informierten die spanischen Medizintechniker an den Laboratorios Indas in Pozuelo de Alarcon akribisch ihre Fachkollegen über ein neu eingereichtes Patent: Die Erfindung war das Modell eines Ventils für einen künstlichen Blasenschließmuskel, der "intraurethral in Menschen platziert werden soll, welcher die Funktion eines externen Urinsphinkters ausübt und der für die Behandlung von Harninkontinenz und/oder Harnverhaltung gedacht ist“, und: „Das Öffnen dieses Ventils wird außerhalb des menschlichen Körpers durch die Anwendung eines Magnetfelds kontrolliert, welches von einem permanenten Magneten erzeugt wird. Das Ventil wird automatisch durch einen permanenten Magneten, der innerhalb des Ventils platziert ist, geschlossen“. Klingt umständlich und war es wahrscheinlich auch.
Die spanische Offensive
Vielleicht war dies genau einer der Gründe, warum Ärzte in der Schweiz ihren meist älteren Urologie-Patienten die externen Magnetfelder und Ventile außerhalb des Körpers nicht ans Herz - und in den Körper – legten und schon vor langer Zeit eigene Wege gingen. Die spanische Offensive gegen Inkontinenz blieb zumindest auf diese Weise ungelöst. Wenn es um die Steuerung der Harnblase geht, setzt die Schweizer Medizin statt dessen primär auf ein Gerät der American Medical Systems (AMS). Dabei öffnen die Patienten die entscheidende Schleuse im Körper mit Hilfe einer Pumpe. Nicht wirklich schön, aber effektiv.
Pumpe statt Magnet - das hätte sich langfristig etablieren können, nur: Bis zu 50 Prozent der Implantate müssen innerhalb von fünf Jahren ausgewechselt werden. Selbst klinisch versierte Zentren kommen an Fehlraten von 11 bis 28 Prozent nicht vorbei. Wieder musste also eine Lösung her.
Wie der Harnschließmuskel nachhaltig auf Trab gebracht werden könnte, stellen nun Bert Müller und seine Kollegen vom Biomaterials Science Center an der Universität Basel gemeinsam mit Wissenschaftlern der NanoPowers SA in Lausanne im Fachblatt Swiss Medical Weekly vor. Auf den ersten Blick scheint das, was die Experten als zukunftsweisend erachten, zumindest in der Theorie als interdisziplinäre Herausforderung geeignet. Wer verstehen will, wie ein Shape Memory Alloy (SMA) funktioniert, muss nämlich in die Untiefen der Chemie tauchen – Kristallographie inbegriffen. Eine Speziallegierung aus Nickel und Titan vollbringt ein kleines Wunder: Bei bestimmten Temperaturen klappen die Kristallgitter um, ein Prozess, den Chemiker beim Martensit im Eisen-Kohlenstoff-System kennen. Auf Nanoebene erweist sich die Speziallegierung als kleiner Motor: Kleine Temperaturänderungen und Reize lassen die Gitter oszillieren. Eine aus diesen Legierungen gebaute Einheit vermochte so viel Kraft aufzubringen, um die Blase im Versuch zu schließen – oder bei Bedarf wieder zu öffnen.
Kunstmuskel für die Blase
Nicht minder aussichtsreich sind Müller und seinen Kollegen zufolge auch sogenannte elektrisch aktivierte Polymereinheiten (EAP). Die schichtartig aufgebauten künstlichen Muskeln reagieren schon heute so schnell, dass sie mitunter mit den natürlichen Pendants mithalten würden. Auch begeisterten die Fasern aus Plaste und Elaste neben Ärzten ebenso die Sportler-Fachwelt, da das Material als quasi unzerstörbar und perfekt formbar gilt.
Nach 30 Jahren könnte damit der klassische, mechanisch–künstliche Sphinkter in der Urologie allmählich einer neuen Generation weichen, erklären die Autoren. Und tatsächlich könnten EAP und SMA-basierte Systeme durch die gezielte Muskelfunktionssimulation den alten Pendants den Rang abzulaufen. Mit einem Problem hätten aber die Ärzte derzeit nicht nur in der Schweiz zu kämpfen: Bei der Polymerversion bedrohte in den heute verfügbaren Modellen die Betriebsspannung in der jetzigen Variante das Leben der Patienten – sie beträgt mehrere Kilovolt.