Einst als wirksame Heilmittel entwickelt, geraten viele Wirkstoffe immer mehr in den Interessensbereich von Militärstrategen. Mit Substanzen, die kognitive Fähigkeiten und die Psyche beeinflussen, lassen sich in Zukunft vielleicht auch Kriege gewinnen.
So hatte sich das der Belgier Paul Janssen sicher nicht gedacht, als er vor rund 50 Jahren sein wirksames Anästhetikum entwickelte: Fentanyl. Denn ein Abkömmling des Opioids diente vermutlich 2002 der russischen Regierung dazu, Geiseln in einem Moskauer Theater aus der Hand tschetschenischer Aufständischer zu befreien. Die erschreckende Bilanz: Von den rund 800 Gekidnappten starben 129 an den Folgen des Gaseinsatzes.
Lahmlegen und befrieden statt töten
Nicht der einzige Fall, in dem Heilmittel der Medizin zu Waffen im Krieg gegen Terroristen oder Staatsfeinde werden. "Incapacitating Agents" sind Wirkstoffe, die nicht töten, sondern „nur“ die körperliche Aktivität lahmlegen. Fentanyl wurde in den sechziger Jahren von den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu einem "Knock-out-Gas" weiterentwickelt. Erst als die Gefahr eines ungewollten fatalen Ausgangs - möglicherweise auch für die eigenen Truppen - nicht mehr berechenbar erschien, stellten die beiden Nationen die weitere Forschung daran ein. Dass jedoch zumindest Russland und auch tschechische Forschungslabors weiter an dem Opioid arbeiten, ist seit dem Einsatz vor acht Jahren und Berichten aus Waffentechnologie-Kongressen unbestritten.
Ebenso unbestritten ist jedoch auch die Entwicklung von neuen biologischen "nicht-letalen" Systemen, die auf raffinierte Weise in die Prozesse des zentralen Nervensystems eingreifen. So erschien vor zwei Jahren ein Bericht der National Academies of Science der USA mit dem Titel: "Emerging Cognitive Neuroscience and Related Technologies". Mit zunehmenden Kenntnissen über die Stoffwechselwege von kognitiven Funktionen des Gehirns ließen sich auch entsprechende Antagonisten entwickeln, die diese unterbrechen. Mit Hilfe der Nanotechnologie sollte es etwa gelingen, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und damit "Trojanische Pferde" in das Gehirn einzuschleusen. Auf dem europäischen Symposium über nicht-letale Waffen, dass das Fraunhofer-Institut für chemische Technologie alle zwei Jahre im badischen Ettlingen organisiert, berichteten Wissenschaftler des Instituts für experimentelle Medizin in Prag im Jahr 2007 von Versuchen an Makaken. Mit Kombinationen verschiedener Wirkstoffe gelang es ihnen, den Äffchen die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten zu nehmen. Mit den von den Militärs als "Calmatives" bezeichneten Stoffen könnten damit Terroristen und andere ungeliebte Aggressoren "befriedet" werden. An der Möglichkeit, diese Wirkstoffe auch per Aerosol zu verbreiten, wird wohl gerade intensiv gearbeitet.
Nicht-letal: Tödlich für zehn Prozent
Nach NATO-Definition sollen nicht-letale Waffen den Gegner lahmlegen oder ihn von seinem Vorhaben abbringen, "mit einer geringen Wahrscheinlichkeit für den tödlichen Ausgang oder einer dauerhaften Behinderung". Das gelingt entsprechend Versuchen an Freiwilligen und Affen und nach Ansicht der tschechischen Experten am besten mit einem Gemisch aus dem Benzodiazepin Midazolam, mit Medetomidin, einem a2-Adrenozeptor-Agonist und Ketamin. Angeblich ist die "Immobilisierung fast vollständig reversibel“. Wer aber selbst bei einer Substanz mit dem therapeutischen Quotient (dem Verhältnis von letaler zu effektiver Dosis) von 1000 rund 99% der Betroffenen außer Gefecht setzen will, nimmt nach Berechnungen von Mathematikern in Kauf, dass neun Prozent der „Zielobjekte“ sterben. Die Wirkstoffe der tschechischen Labors besitzen durchschnittliche Quotienten zwischen fünf und zehn. In Moskau betrug die Todesrate beim Gaseinsatz rund 16 Prozent. Kein Wunder, dass viele Fachleute bei „nicht-letalen“ Waffen von reinem Zynismus reden.
Ausgerottet, aber immer noch bedrohlich
Aber auch ganz andere Biowaffen stehen wie schon vor Jahrzehnten im Fokus intensiver Forschung. Offiziell schon längst ausgerottet, verbreiten Pockenviren je nach Standpunkt entweder immer noch Angst oder sind eine Option der Strategen in den Verteidigungsministerien. 2006 gelang es einem englischen Journalisten, alle notwendigen DNA-Fragmente zum Zusammenbau des Virus im Internet zu bestellen. Eine Handvoll Länder, darunter besonders die USA, aber auch Deutschland, haben sich daher mit Impfstoff gegen das Virus versorgt. Einer der maßgeblichen Hersteller ist dabei das deutsch-dänische Biotech-Unternehmen Bavarian-Nordic. Da das Vakzin demnächst seiner abschließenden Phase-III-Studie entgegengeht, ist es offiziell noch nicht von den Behörden zugelassen. Dennoch hat die US-Regierung dem Unternehmen inzwischen Aufträge im Wert von mehr als 680 Mio Dollar beschert. Für den internen Gebrauch wird der Impfstoff aus einem modifizierten Vakzinia-Virus auch bereits ausgeliefert, an einer gefriergetrockneten Version gerade gearbeitet. Entsprechend dem erfolgreichen Geschäft mit der Angst wird Bavarian Nordic demnächst auch mit den klinischen Prüfungen eines Anthrax-Impfstoffs beginnen und hofft auf ähnlich gute Abschlüsse.
Je nach Bedarf: nachwachsende Finger oder Panik beim Gegner
Wer im Kampfeinsatz verwundet wird oder gar Gliedmaßen verliert, hat in Zukunft vielleicht wesentlich bessere Chancen, bald wiederhergestellt ins normale Leben oder aufs Schlachtfeld zurückzukehren. So hat Stephen Badylak von der Pittsburgh University mit Unterstützung der US-Army ein therapeutisches Pulver entwickelt, das extrazelluläres Matrixmaterial aus Schweine-Harnblasen enthält und adulte Stammzellen aktiviert. Bei fingeramputierten Patienten bewirkte „Pixie-Dust“ angeblich, dass die fehlenden Fingerspitzen bis zu einem Zentimeter in der ursprünglichen Form nachwuchsen. Die Medizinwelt sieht diese Meldung jedoch durchaus kritisch. Die Forschungsorganisation des amerikanischen Verteidigungsministeriums DARPA unterstützt etwa mit 10 Millionen Dollar Forscher aus Texas, die versuchen, den Stoffwechsel verwundeter Soldaten mit Hydrogensulfid in einen Art "Stand-by"- Zustand zu überführen, ähnlich einem Winterschlaf. Das Ziel, so die Forscher, ist den zurückgefahrenen Stoffaustausch bei verringertem Sauerstoffbedarf mindestens sechs Stunden auch bei großem Blutverlust aufrecht zu erhalten.
Nicht immer ist es nötig, den Gegner kampfunfähig zu machen, um sich Vorteile zu verschaffen. Schweizer Wissenschaftler veröffentlichten bereits vor fünf Jahren, dass das Neurohormon Oxytocin per Aerosol das Vertrauen in das Gegenüber fördert. Auch dadurch ließe sich der Feind "befrieden". Möglicherweise lassen sich in der Zukunft je nach Bedarf, Panik, Depression oder geistige Verwirrung beim Angreifer hervorrufen - durch Soldaten, die durch Gehirndoping ständig wach und leistungsfähig sind und miteinander durch verschlüsselte Gehirnstromsignale miteinander kommunizieren. Malcolm Dando von der Abteilung für Friedensforschung im englischen Bradford ruft in einem Artikel im renommierten Wissenschaftsblatt "Nature" dazu auf, nicht nur Politiker in die Pflicht zu nehmen. Wenn es um die "Militarisierung" neuer Forschungsergebnisse geht, sollte auch der Wissenschaftler bereits beim Experiment daran denken, dass seine Entdeckung nicht nur der Heilung von Krankheiten dienen könnte.