Rollstuhlfahrer sind durch die starke Belastung der Arme vermehrt von Sehnenverletzungen betroffen. Sport verdoppelt das Risiko sogar. Ein Heidelberger Orthopäde legt mit einer Reihe von Studien erstmals belastbare Zahlen vor und rät zu speziellen Trainingsprogrammen.
Rund zwei Drittel der Querschnittgelähmten in Deutschland ziehen sich im Laufe ihres Lebens Sehnenrisse in der Schultermuskulatur zu. Das ist viermal häufiger als bei Menschen, die nicht auf den Rollstuhl angewiesen sind. Privatdozent Dr. Michael Akbar, Leiter des Wirbelsäulenzentrums an der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg, ermittelte in verschiedenen Studien erstmals mit Hilfe bildgebender Verfahren die Häufigkeit dieser durch Überlastung des Schultergelenks verursachten Verletzung sowie Risikofaktoren. „Diese Studien zeigen mit erschreckender Deutlichkeit, dass Querschnittgelähmte nicht allein unter chronischen Schmerzen leiden. Tatsächlich sind diese Verletzungen der Schultermuskulatur ein unterschätztes Problem, das die Selbstständigkeit, Mobilität und Lebensqualität massiv beeinträchtigen kann und dem bisher noch viel zu wenig entgegen gesetzt wird“, erklärt Akbar.
Als Konsequenz seiner Ergebnisse regte er bereits die Entwicklung spezieller Trainingsprogramme für Rollstuhlfahrer an, um gezielt die Schultermuskulatur zu stärken und das Schultergelenk vor Überlastung zu schützen. Die Trainingsprogramme werden aktuell von der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegiologie e.V. (DMGP) ausgearbeitet. Rund 2.000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland eine Verletzung des Rückenmarks, die eine Querschnittlähmung zur Folge hat. Bei knapp 60 Prozent betrifft die Lähmung die Paraplegie. Betroffene sind fortan in ihrer Mobilität auf einen mechanischen Rollstuhl angewiesen. Die Schultergelenke werden enorm beansprucht durch Antreiben des Rollstuhls, Stemmen des eigenen Körpergewichts sowie häufiges Heben der Arme über Kopf. Früher Verschleiß der schulterumgreifenden Muskulatur ist vorprogrammiert. „Da bislang die Ursachen dafür noch nicht systematisch aufgeklärt waren, war eine gezielte Behandlung und vor allem Vorbeugung nicht möglich“, so Akbar.
Die Häufigkeit der Schulterverletzungen ermittelte Akbar unter anderem in einer Vergleichsstudie mit 100 paraplegischen Patienten (Durchschnittsalter 52 Jahre, durchschnittliche Lähmungsdauer 34 Jahre) und 100 nicht gelähmten Probanden im selben Alterspektrum. Die Schultergelenke wurden jeweils klinisch und mittels Kernspintomographie untersucht: Bei 63 Prozent der Querschnittgelähmten fand sich auf mindestens einer Seite ein Sehnenriss der schulterumgreifenden Muskulatur, in der Kontrollgruppe bei 15 Prozent. Gleichzeitig waren die querschnittgelähmten Patienten mit Sehnenriss deutlich jünger als Betroffene aus der Kontrollgruppe. In einer weiteren Studie untersuchte Akbar Sport als möglichen Risikofaktor für Sehnenrisse in der Schulter: Er verglich eine Sport-Gruppe mit 103 Patienten, die ein- bis zweimal pro Woche Überkopfsport wie z.B. Basketball ausübten, mit einer Gruppe mit 193 Patienten, die sich seltener als einmal pro Woche oder überhaupt nicht sportlich betätigten.
Ohne regelmäßigen Sport traten bei 36 Prozent der Patienten Sehnenrisse auf, in der Sport-Gruppe bei 76 Prozent. „Daraus ergibt sich ein Dilemma: Wer als Rollstuhlfahrer Sport treibt, hat ein doppelt so hohes Risiko sich einen Sehnenriss in der Schulter zuzuziehen. Auf der anderen Seite - auch das hat die Studie gezeigt - sind die sportlich aktiven Patienten insgesamt gesünder und fitter“, so Akbar. „Es ist daher nicht sinnvoll, Querschnittgelähmten von Sport abzuraten. Vielmehr sind auch in diesem Bereich spezielle Trainingsprogramme, die Sehnenschäden vorbeugen, dringend notwendig.“