Zwei bereits zugelassene Medikamente helfen auch gegen Multipler Sklerose. Klinische Studien konnten zeigen, dass sowohl das Schuppenflechtemittel Fumarsäure als auch das gegen Leukämie eingesetzte Alemtuzumab den Verlauf der schubförmig verlaufenden MS-Variante verlangsamen.
Das Immunsystem schützt den Menschen vor schädlichen Mikroben. Rasch und fast immer erfolgreich vernichtet es mit einem ganzen Arsenal von Zellen und Botenstoffen feindliche Eindringlinge. Doch manchmal wenden sich die Abwehrtruppen gegen körpereigene Strukturen und lösen Autoimmunerkrankungen wie die Multiple Sklerose (MS) aus. Bei dieser Krankheit zerstören fehlgeleitete Zellen des Immunsystems die Myelinscheide, die als Isolationsschicht die Fortsätze der Nervenzellen umhüllt. Obwohl immer noch nicht klar ist, was eigentlich die Attacke auf das zentrale Nervensystem auslöst, lässt sich die schubförmig verlaufende Variante der Krankheit, an der rund 85 Prozent aller Patienten leiden, mittlerweile recht gut behandeln. Interferon beta-1 und Glatirameracetat reduzieren Stärke und Frequenz der Schübe, doch beide Mittel müssen injiziert werden.
Kleine Studie mit 257 Patienten
In einer kürzlich veröffentlichten Phase-II-Studie mit 257 MS-Patienten wiesen Forscher nach, dass auch oral verabreichte Fumarsäure den Verlauf der Krankheit verlangsamen kann. Die Neurologen Prof. Dr. Ralf Gold von der Universität Bochum und Prof. Dr. Ludwig Kappos von der Universitätsklinik Basel berichteten in der Fachzeitschrift Lancet über ihre Ergebnisse mit dem Medikament, das bislang gegen Schuppenflechte eingesetzt wird. In der Studie erhielten die Patienten über einen Zeitraum von sechs Monaten entweder Fumarsäure in verschiedenen Dosierungen oder ein Placebo. Nach drei, vier und sechs wurden die Probanden im Kernspintomographen untersucht.
Es zeigte sich, dass die Patientengruppe, die mit der höchsten Dosis von 240 Milligramm Fumarsäure behandelt wurde, 69 Prozent weniger Entzündungsherde im Gehirn aufwies als die Kontrollgruppe. Außerdem hatte sich bei ihnen die Anzahl der Schübe um 32 Prozent verringert. Die Forscher um Gold und Kappos nehmen an, dass Fumarsäure nicht nur auf das Immunsystem der Patienten einwirkt sondern über den Transkriptionsfaktor Nrf2 die Nervenzellen im Gehirn direkt schützen kann. Ein weiterer Vorteil der Substanz ist nach Ansicht der Autoren, dass sie sich mit den herkömmlichen MS-Medikamenten kombinieren lasse. Häufigste Nebenwirkungen der Substanz waren Unterleibsschmerzen und Hitzewallungen.
Patienten können Fumarsäure als Tablette einnehmen
Unabhängige Experten sind von der neuen Studie nicht ganz so begeistert: „ Die Ergebnisse sind nicht wirklich atemberaubend“, sagt Prof. Roland Martin, der in Hamburg Direktor des Instituts für Neuroimmunologie und Klinische Multiple Skleroseforschung ist. Interferon beta-1 zum Beispiel könne die Anzahl der Entzündungsherde um bis zu 90 Prozent senken. Für Fumarsäure spreche allerdings neben dem besseren Nebenwirkungsprofil die Möglichkeit, das Medikament oral zu verabreichen. „Für MS-Patienten, die sich aus Angst oder anderen Gründen nicht spritzen wollen, ist Fumarsäure ein großer Vorteil“, sagt Martin.
In einer anderen Phase-II-Studie konnte ein weiteres Medikament seine Wirksamkeit bei MS-Patienten zeigen. Das New England Journal of Medicine berichtete, dass der monoklonale Antikörper Alemtuzumab das Fortschreiten der Krankheit im Vergleich zur gängigen Standardtherapie deutlich verlangsamt. Der Antikörper bindet spezifisch an das Glykoprotein CD52 auf der Zelloberfläche von Lymphozyten und ist bereits zur Behandlung der chronisch lymphatischen Leukämie zugelassen. Zwei Drittel der 334 Probanden mit MS im Anfangsstadium bekam den Antikörper, ein Drittel Interferon beta-1. Verglichen mit Interferon beta-1 nahm die Anzahl der Schübe um 74 Prozent ab. Nach drei Jahren hatten drei Viertel der Patienten noch keinen Rückfall, mit der Standarttherapie nur die Hälfte. Alemtuzumab verringerte ebenfalls die Anzahl der Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark.
Alemtuzumab hat deutliche Nebenwirkungen
Allerdings waren auch die Nebenwirkungen des Antikörpers ausgeprägter als die von Interferon beta-1: Bei 24 Prozent der behandelten MS-Patienten kam es zu einer Autoimmunreaktion gegen die Schilddrüse, die zu einer Überfunktion der Drüse führte; 66 Prozent litten an Infektionen. Der Neurologe Martin würde den Antikörper deshalb nur im Einzelfall einsetzen, wenn bei MS-Patienten kein anderes Medikament mehr wirkt. Alemtuzumab muss nur einmal pro Jahr gespritzt werden. Was auf den ersten Blick wie ein Vorteil anmutet, könnte für Patienten fatale Folgen haben. „Falls unerwünschte Wirkungen auftreten, haben wir keine Möglichkeit zur Korrektur“, sagt Martin.
Sowohl für Fumarsäure als auch für Alemtuzumab haben mittlerweile Phase-III-Studien begonnen; sind sie erfolgreich, könnten beide Substanzen schon 2011 ihre Zulassung erhalten. Doch selbst wenn Mediziner bald auf bessere Arzneimittel zurückgreifen können, mit denen sie MS bekämpfen können, stehen sie weiterhin vor einem Dilemma. Bislang gibt es nämliche keinen diagnostischen Test, der vorhersagt, ob ein Patient auf ein bestimmtes Medikament anspricht oder nicht. Der behandelnde Arzt kann nur auf gut Glück einen Wirkstoff nach dem anderen ausprobieren.
Forscher auf Suche nach einfachem MS-Test
Die Tatsache, dass wohl mehrere Untergruppen von MS existieren, verkompliziert die Lage zusätzlich. Die Untergruppen unterscheiden sich auf molekularer Ebene vor allem hinsichtlich der beteiligten Zellen und reagieren dadurch unterschiedlich auf Medikamente. Mithilfe der Kernspintomografie lässt sich zwar heute schon die Entzündung und Zerstörung der Nervenzellfortsätze sichtbar machen, aber eine Zuordnung zu den einzelnen Untergruppen ist derzeit nur möglich, wenn eine Gewebeprobe aus dem Gehirn entnommen wird. Martin und seine Kollegen suchen deshalb intensiv nach einem einfacheren Verfahren für die genaue Diagnose, das ohne chirurgischen Eingriff auskommt. Sie hoffen, ihren Patienten dann noch gezielter helfen zu können.