Alle haben was zur Medizinstudienreform 2020 zu sagen. Schon lange gibt es kleinere Versuche, das Medizinstudium zu erneuern. Reformstudiengänge sind in Mode, doch wie gut bereiten sie Studenten tatsächlich auf den Arztberuf vor?
Inzwischen wird fast jeder 4. Studienplatz (24,19 Prozent laut hochschulstart.de) nicht mehr nach der klassischen Studienordnung ausgerichtet, sondern im Rahmen eines Modellstudienganges angeboten. So zum Beispiel an den Universitäten in Witten-Herdecke, Bochum oder Brandenburg. Weitere Unis wie München, Dresden, Heidelberg, Münster oder Lübeck haben ihr Curriculum teilweise für Reformschritte abgewandelt. An der Berliner Charité wurde im Jahr 2001 der deutschlandweit erste Reformstudiengang eingeführt, der das Studium deutlich praxisnäher gestalten sollte. Dieser konnte sich jedoch aufgrund von internem Widerstand der Universitätsleitungen nicht halten. 2010 gab es dann einen neuen Versuch der Umstrukturierung, diesmal entstand der „Modellstudiengang“ – ein Hybrid aus dem ehemaligem Reformstudiengang (RSM) und dem Regelstudiengang (RSG) der Charité. Die Mischung aus traditionellen Lehr-, Lern- und Prüfungsformaten mit Elementen des RSM wie Kommunikation/ Interaktion (KIT) und Problem-orientiertem Lernen (POL), liefert mehr Fächersystematik als ein fallbasiertes Curriculum. Inzwischen gibt es auch die ersten fertigen Ärzte. Doch wie schneidet nun der Modellstudiengang eigentlich im Vergleich zum normalen Medizinstudium ab? Laut Prof. Gerhard Gaedicke, dem Leiter des Reformstudienganges Medizin an der Charité, ist der neu strukturierte Studiengang bisher von Erfolg gekrönt: „Im Progress-Test, den alle Studenten im RSM und RSG jedes Semester absolvieren müssen, beantworten die RSM-Studenten zehn bis 15 Prozent der Fragen mehr richtig. Auch im letzten Teil der Ärztlichen Prüfung schneiden sie im Vergleich zu ihren Kollegen im Regelstudiengang besser ab. Sie sind diesen überlegen in den praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten und in der Kommunikation und Interaktion mit Patienten. Auch die berufliche Zufriedenheit ist bei Absolventen des RSM höher als in der Vergleichsgruppe. 30 Prozent mehr abgeschlossene Doktorarbeiten zeigen, dass diese Absolventen gelernt haben, die richtigen Fragen zu stellen und wissenschaftlich zu arbeiten.“ Doch sehen das auch die Studenten so? Bereitet der reformierte Studiengang wirklich besser auf das Berufsleben als Arzt vor? Oder ist der Modellstudiengang doch nur eine schlechte Nachahmung mit aufgeweichten Strukturen?
Der grundlegende Unterschied zum Regelstudiengang ist wohl die Abschaffung des viel gefürchteten Physikums nach dem 4. Fachsemester und die Auflösung der Vorklinik. Stattdessen haben die Modellis – wie die Studenten des neuen Studiengangs inzwischen genannt werden – schriftliche und praktische Prüfungen am Ende des Semesters. Die Multiple-Choice-Abfrage wird dabei durch Multiple Essay Questions (MEQs) - offene, fallbezogene Fragen - ersetzt. „Vor allem das fehlende Physikum nimmt einem den Druck, sollte man klinisch sehr interessiert sein, vorklinisch jedoch nicht so begabt“, schreibt Partrick auf dem Portal studycheck zum neuen Studiengang. Sandy fügt hinzu: „[...] außerdem werden wir nicht jede Woche mit Testaten gequält, was ich doch sehr begrüße.“ Bedenken, dass man durch das fehlende erste Staatsexamen nicht genügend vorbereitet werde, haben die Studenten kaum: „So oft man als Modelli belächelt wird, weiß man auch ohne Physikum im Vergleich mit anderen Studenten des Regelstudiengangs bei Famulaturen mehr als gedacht“, berichtet Naomi von ihren Erfahrungen. Die gesamten Lehrinhalte des Modellstudiengangs sind außerdem lebensalterbezogen aufgebaut: von der Perinatologie zur Geriatrie. Die Studenten sollen unter Anleitung selbstständig und praktisch lernen. Dafür gibt es das „problemorientierte Lernen“ (POL), das Kommunikationstechniken einschleifen soll. Montags wird ein Patientenfall studiert und danach analysieren die Studenten in Kleingruppen die aufgetauchten Fragen. Am Freitag resümiert die Arbeitsgruppe dann ihren Lernfortschritt unter Anleitung eines Dozenten, der die Gruppe moderiert. Valerie berichtet auf studycheck begeistert von der kleinen Gruppengröße: „Mit Ausnahme der Vorlesungen sitzen in einem Seminar oder Praktikum nicht mehr als 25 Menschen. Das erleichtert das Lernen ungemein.“
Auch semesterlange Vorlesungen eines Faches sucht man im Modellstudiengang vergebens. Hier ist jedes Semester in vier jeweils vierwöchige Module eingeteilt, die jeweils einen Themenkomplex behandeln, in den viele Fächer hineinspielen. So werden zum Beispiel die Module „Herz und Kreislauf“, „Biologie der Zelle“, oder „Atmung“ von Physikern, Biochemikern, Physiologen und Klinikern unterrichtet. Dies finden allerdings nicht alle Studenten optimal: „ Manchmal ist es etwas überfordernd, Klinik und Vorklinik immer zusammen zu bringen“ schreibt Jasmin auf studycheck. „[...] Das ganze System des Modellstudiengangs ist so aufgebaut, dass man von jedem Thema ständig ein kleines Häppchen lernt und dann das nächste Thema lernen muss. Wenn man sich jedoch nicht unbedingt genau erinnert, was zum Thema Hörstörungen vor fünf Semestern gelehrt wurde, steht man auf dem Schlauch und muss wieder von vorn anfangen“, beklagt sich ein anderer Student. Doch es gibt auch Studenten, denen das verknüpfte Lernen gefällt: „Praxisorientiertes Lernen steht ganz klar im Vordergrund. [...] Das ist weit entfernt von trockener Vorklinik. Zugegeben, Bio, Chemie und Physik müssen wir auch pauken, aber das machen Vorlesungen à la ‘Was würde Dr. House tun?‘ wieder wett“, berichtet Julia von ihren positiven Erfahrungen. Generell ist der Modellstudiengang sehr viel praxisnäher aufgebaut als der Regelstudiengang. Die Studenten haben schon im ersten Semester Kontakt zum Patienten und lernen an „echten“ diagnostischen Fällen. Vor allem Sandy ist von dem Konzept begeistert und kann jedem den Modellstudiengang ans Herz legen: „Nachdem ich anfänglich glaubte, dass mir vorklinische Grundlagen für das spätere Arztleben fehlen würden, bin ich nun vollkommen vom Modellstudiengang überzeugt! Wer es liebt, das Vorklinische sofort mit dem klinischen Alltag zu verknüpfen, sollte definitiv Modelli werden![...] So wird die ganze Vorklinik nie langweilig!“ Auch Sophie pflichtet ihr bei: „Ab der ersten Woche hat man Kurse am Patientenbett. Für einen Beruf, der später hauptsächlich aus dem Umgang mit Menschen besteht ist es sehr gut dies von Anfang an zu lernen und nicht erst nach dem 12-semestrigen Studieren von Büchern ins Haifischbecken geworfen zu werden.“
Doch immer wieder fühlen sich viele der Modellstudenten auch als Versuchskaninchen. Da ihr Studiengang komplett anders aufgebaut ist als das normale Medizinstudium, kann man an keine andere Uni in Deutschland wechseln. Für viele ein großer Nachteil. In ferner Zukunft, hofft man an der Charité, werden andere Universitäten das Modell übernehmen, und man werde ein Netzwerk haben. Doch bislang muss die Entscheidung für den Modellstudiengang gut überlegt werden. So schreibt Magdalena: „Leider kann man aus diesem Studiengang nicht an eine andere Medizinische Fakultät wechseln, ohne ein paar Semester wiederholen zu müssen - womit der BAföG-Anspruch erlöschen würde. Demnach habe ich 10 Semester in einem katastrophal organisierten Studiengang studiert, weil ich nicht weg konnte.“ Auch andere Studenten sind unzufrieden mit dem Modellstudiengang. Gerade die Organisation im Allgemeinen und die Prüfungsordnung im Speziellen werden sehr oft als unzureichend beschrieben. „Anstelle eines gut organisierten Curriculums, das uns bei der Immatrikulation versprochen wurde, hörte ich andauernd, dass wir nun leider Versuchskaninchen seien und alles Inhaltliche und Formale des Studiengangs noch unfertig sei. Dies zog sich dann leider bis zur mangelhaften Qualität der Prüfungen durch, die inhaltlich so willkürlich zusammengestellt erschienen, dass eine gute Vorbereitung und das Erreichen sehr guter Leistungen fast unmöglich war“ berichtet Jana. Auch Christine pflichtet ihr bei: „Leider ist vieles von der Organisation her oft durcheinander.“
Andere kritisieren, dass Dozenten mit dem neuen Modellstudiengang noch überfordert seien. So schreibt Helene: „[...] Zwar ist der Studiengang an sich modernisiert, allerdings ist das bei vielen Dozenten noch nicht angekommen bzw. wird belächelt. Es gibt super moderne Labore, aber auch komplett veraltete Seminarräume, wo Platz für 16 ist und über 20 Leute reingestopft werden.“ Katalin bemerkt: „ Die Dozenten sind fachlich gut ausgebildet, jedoch scheinen sie leider etwas überlastet zu sein, insbesondere die jungen Ärzte.“ Doch auf das Feedback der Studenten wird konstruktiv eingegangen. So berichtet Lisa: „Mit jedem Jahr wird der Modellstudiengang besser; die Dozenten, die jahrelang nur den Regelstudiengang unterrichtet haben, mussten sich erst umgewöhnen, was zu weniger guter Lehre geführt hat. [...] Doch unsere Kritik wird ernst genommen und man versucht, es besser zu machen.“
Viel Gegenwind bekommt der Modellstudiengang auch aus den eigenen Reihen. Schon der alte Reformstudiengang wurde von vielen Fakultätsmitgliedern kritisiert. Einige Fächer würden viel zu kurz kommen und durch das fehlende Physikum würden die Studenten nicht richtig auf das 2. Staatsexamen vorbereitet – so die Kritikpunkte. Mancher Dozent hätte sich auch gewünscht, dass es mehr Zeit für die Planung des Nachfolgemodells gegeben hätte. Doch die Politik drängte – der alte Reformstudiengang lief aus -, da blieb nicht viel Zeit für langfristige Planung und die Institute kämpften um möglichst viele Unterrichtseinheiten für ihr Fachgebiet, ohne richtige Planung eines Lehrkonzepts. „[...] der Modellstudiengang wurde ziemlich übers Knie gebrochen und das merkt man an vielen Stellen. Die Prüfungen sind ungerecht und spiegeln kaum die Lerninhalte wider. Ebenso ziehen nicht alle Dozenten an einem Strang, manche stellen sich offen gegen das erneuerte Studiumskonzept. Auch die Bürokratie raubt oft Zeit und Nerven. Die Idee ist gut, aber die Welt noch nicht bereit “ kommentiert Student A. den Modellstudiengang.
Auch einige andere Studenten wünschten sich mehr Struktur wie im Regelstudiengang und die Vertiefung einiger Fächer: „Was definitiv für einen Medizinstudiengang nicht ausreichend ist, ist die Anatomie“, schreibt Lisa. Eva bemängelt, die Pharmakologie komme zu kurz: „Das Studium an sich ist super aufgebaut, nur würde ich mir gerade hin zum Staatsexamen wünschen, dass es einen extra Kurs zu Pharmakologie und Medikamenteninteraktionen geben würde“. Auch Helena stimmt dem zu: „Leider bleibt das Grundlagenwissen hinten an. Das wird dem Studiengang immer wieder zu recht vorgeworfen.“ Sophie sieht allerdings auch Vorteile darin: „Man muss sehr viel Selbstdisziplin mitbringen und sich organisieren können, da man prüfungsrelevanten Inhalte selbst zusammentragen muss und daher jede Veranstaltung konsequent nachbereitet werden muss. [...] Aber dies hat auch Vorteile, denn die Absolventen des Modellstudiengangs werden allgemein als deutlich selbstständiger wahrgenommen und können sich leichter in den Klinikalltag integrieren. So haben wir im Staatsexamen auch besser abgeschnitten als die Regelstudiengänger.“ Auch Dalia findet, dass der Studiengang eine Chance zur Verbesserung verdient: „Wunderbares ‘Waldorf-Studium‘ in der Hauptstadt? Nein, Krankheiten haben wir noch nicht getanzt – aber der Tag könnte noch kommen. Der Modellstudiengang Medizin verbindet schon von Anfang an theoretisches Lernen mit klinischen Grundlagen. Dabei spart die Charité an nichts: Ob es nun Schauspieler-Patienten sind, die einen zur Anamnese zur Verfügung stehen oder reichlich Hygiene-Praktika, bei denen man so viel Desinfektionsmitttel, Mundschutz-Masken und Handschuhe verbraucht bis man auch wirklich niemanden im Krankenhaus umbringt. Zwar ist das Modell noch neu und unerprobt, dennoch ist es wert einen Schritt Richtung Zukunft und Innovation zu wagen!“
Auch wenn das Konzept des reformierten Modellstudiengangs der Berliner Charité noch nicht ausgereift ist, so ist es dennoch ein Schritt in die richtige Richtung und Teil der Medizinstudienreform, die 2020 kommen soll. Man hat zwar das Medizinstudium hier nicht neu erfunden – andere Unis in den USA und Schweden haben bereits deutlich bessere Konzepte eines praxisnäheren und teamorientierten Studiums, an denen man sich orientiert – dennoch gibt es viele gute neue Ideen, die es lohnt, weiter zu verfolgen und auszubauen. Nimmt man die Kritikpunkte der Studenten und Dozenten ernst, kann der Modellstudiengang Vorbild für eine ganze Generation neu reformierter Medizinstudiengänge in Deutschland werden. Dann müsste auch nicht jede Universität ihr eigenes Süppchen kochen, sondern es könnte ein bundesweit einheitlich reformiertes Medizinstudium geben, wodurch auch ein Wechsel des Studienortes wieder ohne Probleme möglich wäre.