Seit mehr als 15 Jahren stellen sich Pädiater, Gynäkologen und Chirurgen die Frage, ob das Narkotisieren von Kleinkindern und schwangeren Frauen sicher ist. Eine aktuelle Warnung der FDA gibt es zwar, eindeutige Antworten aber nicht. Was bedeutet das im Praxisalltag?
Seit 2007 hielt die FDA in den USA drei Anhörungen ab, in denen Experten miteinander über die Studienlage diskutierten, zuletzt im November 2014. Ausreichend valide Studien mit Kindern gibt es bis heute nicht, um das Problem der Anästhesie bei Kleinkindern und Feten wirklich beurteilen zu können. Allerdings beriefen sich die Vertreter der FDA im Jahr 2014 auch auf eine Reihe von Tier- und In-vitro-Studien, die ein differenzierteres Bild zeichneten. Studien an Mäusen bis hin zu Primaten zeigten nämlich durchaus negative Effekte zweier landläufig eingesetzter Anästhetika-Klassen, der NMDA-Antagonisten sowie der GABA-Antagonisten. Es traten neuroanatomische Entwicklungsstörungen bei den Versuchstieren auf, wobei diese Entwicklungsverzögerungen zumindest langanhaltend, in einigen Fällen sogar permanent waren. Die Daten dieser Studien lassen sich allerdings nicht so einfach auf den Menschen übertragen, weshalb ihr Wert in der Frage „Anästhesie für Kleinkinder – ja oder nein“ gemeinhin bezweifelt wird.
Auch die verfügbaren klinischen Daten zum Thema sind sehr schwer auszuwerten und zu verallgemeinern. Kurze oder einmalige Narkosen scheinen allerdings keinen Einfluss auf die Gehirnfunktionen oder die kognitiven Möglichkeiten der Kinder zu haben. Die Folgen längerer Narkose-Episoden oder wiederholter Narkotisierungen scheinen indes eher von der Indikation abzuhängen, welche ein solches Eingreifen überhaupt erst erforderlich macht. Zwischenzeitlich liefen oder laufen Studien mit Kindern, die diese Fragen adäquat und direkt beantworten sollen. Zwei von ihnen, die General Anesthesia vs. Spinal Anesthesia (GAS)-Studie und die Pediatric Anesthesia and Neurodevelopment Assessment (PANDA)-Studie, lieferten bereits 2016 erste interessante Ergebnisse. So zeigte sich eindeutig, dass eine einmalige und standardmäßig verabreichte Kurzzeit-Narkose die Gehirnentwicklung nicht beeinträchtigt. Trotz dieser hilfreichen Ergebnisse, muss dennoch beachtet werden, dass bedauerlicherweise keine der aktuellen Studien die möglichen Auswirkungen einer Anästhesie bei Schwangeren auf die spätere Gehirnentwicklung des Kindes untersucht hat.
Trotz oder gerade wegen der bisher nicht eindeutigen Datenlage, veröffentlichte die FDA im Dezember 2016 schließlich eine allgemeine Warnung, dass die wiederholte oder mehr als drei Stunden andauernde Anästhesie bei Kindern unter drei Jahren sowie bei Ungeborenen bis zum dritten Trimester „die Entwicklung des kindlichen Gehirns beinträchtigen könnte“. Diese Warnung verstärkt in erster Linie die Unsicherheiten bei Ärzten sowie bei den Eltern von Patienten. Das Problem dabei: Auf die Fragen, die diese allgemeine Warnung aufwirft, gibt es bis dato keine ausreichende Antwort, weil die Studien hierzu fehlen. Führt das Vorgehen der FDA also letztlich dazu, dass wichtige Operationen bei Kleinkindern verschoben werden müssen? In den USA beträfe dies dann unter Umständen 1,5 bis 2 Millionen Kinder unter drei Jahren, die sich bisher pro Jahr einem Eingriff unterziehen mussten.
Die aktuelle Warnung der FDA in Bezug auf die Anästhesie bei Kleinindern unter drei Jahren sowie bei schwangeren Frauen bis zum dritten Trimester schafft aus Expertensicht in erster Linie Unsicherheiten, die derzeit aufgrund der unzureichenden Datenlage auch nicht adäquat aufgelöst werden können. „Es gibt derzeit keine Alternativen bei den Anästhetika, die man Kleinkindern verabreichen könnte. Wir müssen also weiterhin die verfügbaren Medikamente nutzen. Nicht jeder Eingriff erlaubt darüber hinaus einen Aufschub“, erklärte Dr. Michael Greene, ein Gynäkologe vom Massachussetts General Hospital in den USA erklärte in einem Interview mit dem New England Journal of Medicine. Er rät deshalb allen Kollegen, in Zukunft – genauso wie bisher – das Risiko-Nutzen-Verhältnis mit den Eltern eingehend zu besprechen und wichtige, nicht-verschiebbare Eingriffe auch durchzuführen. „In jedem Fall ist es jetzt auch an der Zeit“, so Greene, „Studien aufzusetzen, die genau diese Fragen, welche sich durch die Warnung ergeben haben, zu klären. Denn nur auf einer soliden Datenbasis sollten in Zukunft Entscheidungen für oder wider die Anästhesie bei Kleinkindern getroffen werden. Originalpublikationen: Anesthesia and Developing Brains — Implications of the FDA Warning Dean B. Andropoulos et al.; N Engl J Med, doi:10.1056/NEJMp1700196; 2017 Neurodevelopmental outcome at 2 years of age after general anaesthesia and awake-regional anaesthesia in infancy (GAS): an international multicentre, randomised controlled trial Andrew J. Davidson et al.; Lancet, doi: 10.1016/S0140-6736(15)00608-X; 2016 Summary of the update session on clinical neurotoxicity studies Pinyavat T et al.; Journal of Neurosurgical Anesthesiology, doi: 10.1097/ANA.0000000000000347; 2016 Impact of anaesthetics and surgery on neurodevelopment: an update Sanders RD et al.; Suppl, doi: 10.1093/bja/aet054; 2013 Association between a single general anesthesia exposure before age 36 months and neurocognitive outcomes in later childhood Sun LS et al.; JAMA, doi: 10.1001/jama.2016.6967; 2016 Early exposure to anesthesia and learning disabilities in a population-based birth cohort Wilder RT et al.; Anesthesiology, doi: 10.1097/01.anes.0000344728.34332.5d; 2009