Weheneinleitung, bildgebende Verfahren bei Kopfschmerzen und andere Maßnahmen: Trotz Leitlinien geben Patienten ihren Ärzten beim Thema Überversorgung schlechte Noten. Die weltweite Kampagne „Choosing Wisely“ will dagegen mit Top-5-Negativlisten vorgehen.
Deutschlands Patienten sind mit ihren Ärzten beim Thema Überversorgung nicht zufrieden. Bei einer repräsentativen Befragung hielten es 37 Prozent für sehr wahrscheinlich und 20 Prozent zumindest für wahrscheinlich. Ärzte teilen diese Sichtweise, wie Umfragen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) zeigen. 19,3 Prozent bewerten Probleme durch Überversorgung als äußerst relevant (5 Punkte), 28,7 Prozent als sehr relevant (4 Punkte) und 36,5 Prozent als relevant (3 Punkte). Sie sehen keine allzu großen Schwierigkeiten durch nicht durchgeführte, aber indizierte Leistungen.
Überversorgung beziehungsweise Unterversorgung aus Sicht von Ärzten. © Bertelsmann-Stiftung Überversorgung aus Sicht von Patienten. © Bertelsmann-Stiftung Jetzt hat die Bertelsmann-Stiftung untersucht, welchen Beitrag „Choosing Wisely“ („Klug entscheiden“) gegen derartige Gefahren leisten kann. Die US-Initiative fasst auch in Deutschland langsam Fuß, und zwar aus gutem Grund. „Choosing Wisely ist eine Kampagne, die Ärzte und andere Fachkräfte im Gesundheitswesen mit den Patienten in einen Dialog über unnötige Untersuchungen und Behandlungen bringen will, damit die Patienten auf einer guten Grundlage entscheiden können, was sie in ihrer Versorgung möchten und was nicht“, sagt Professor Wendy Levinson, einer der Initiatoren. Sie sieht mehrere Gründe, wie es dazu kommt, etwa zu wenig Zeit, ökonomische Interessen oder Unkenntnis aktueller Empfehlungen.
„Leitlinien lassen sich schwer anwenden, weil sie so verdichtet sind“, sagt Levinson. „Für einen Allgemeinmediziner, der einen Patienten mit fünf verschiedenen Erkrankungen vor sich hat, ist es sehr schwierig, sämtliche Leitlinien anzuwenden.“ Hinzu kommt, dass die Dokumente meist nur Handlungsempfehlungen geben. Sie schreiben aber nicht, welche Maßnahmen keinen Sinn machen. Ein Beispiel: In Leitlinien zur Behandlung gastrointestinaler Erkrankungen finden sich evidenzbasierte Hinweise, wann Ärzte Protonenpumpenhemmer verschreiben sollten. Anhaltspunkte zur Beendigung der Pharmakotherapie sind aber rar. Weitere Leitlinien sind daher der falsche Weg, das ist für Levinson klar. Bei „Choosing Wisely“ bearbeiten unterschiedliche medizinische Fachgesellschaften auch verschiedene Themen. Dabei entsteht ein breites Spektrum von sich ergänzenden, aber keinesfalls widersprüchlichen Top-5-Negativlisten. In einem Übersichtsartikel fasst Richard Hurley wichtige US-amerikanische Empfehlungen zusammen. Folgende Maßnahmen werden in den Staaten zu oft eingesetzt: © Bertelsmann-Stiftung
Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hat für internistische Fragestellung hierzulande die Federführung übernommen. Über ein Konsensusverfahren sind Empfehlungen unterschiedlicher Fachbereiche entstanden. Einige teils bekannte, teils überraschende Beispiele aus dem Negativbereich:
Aus ärztlicher Sicht ist so mancher Punkt von „Choosing Wisely“ gar nicht so neu, wie es auf den ersten Blick erscheint. Das American College of Surgeons nennt beispielsweise folgende Untersuchungen in seiner „Top5-Liste“ zur Überversorgung:
„Das sind Forderungen, die in Deutschland schon lange praktiziert werden“, sagt Professor Dr. Tim Pohlemann. Er leitet die Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes. Zu einem ähnlichen Fazit kommt Professor Hans-Joachim Meyer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. „Wir informieren regelhaft über bestehende Alternativen und raten den Patienten, wenn sinnvoll, von einer Operation ab oder gegebenenfalls abzuwarten“, sagt der Chirurg.
Einer der Gründe, warum Patienten trotzdem immer wieder überversorgt werden – auch in Deutschland, sind nicht funktionierende Dialoge zwischen Arzt und Patient. Hier lohnt sich durchaus ein Blick auf das amerikanische System. Laien werden dort von Patientenorganisationen mit Kärtchen ausgestattet: „Brauche ich diesen Test oder dieses Verfahren wirklich?“, steht auf einem Kärtchen, das Patienten in ein Gespräch mit ihrem Arzt problemlos aus der Tasche holen können. Auf weiteren Kärtchen steht:
Derart präzise Gesprächsleitfäden wären – inhaltlich angepasst – auf für Deutschland sinnvoll. Fragebogen für das Arzt-Patient-Gespräch. © Choosing Wisely / Consumer Reports Health / Excellus