Bis auf wenige Ausnahmen galt bisher die Regel: Bei gleicher Gen-Ausstattung bestimmt die Umwelt, wie unterschiedlich sich zwei Menschen entwickeln. Genetiker von der Harvard-Universität haben nun neue Wege entdeckt, wie die Zelle ihre Einzigartigkeit herstellt. Mono-allelische Expression oder "Würfelspiel beim Ablesen".
Immunglobuline, Rezeptoren für die Erkennung von Gerüchen und Interleukine - Botschafter des Immunsystems. Die wenigen Gene dafür galten bisher als Exoten. Sie hatten vielfältige unterschiedliche Muster ihrer Proteine herzustellen. Deswegen greifen sie anscheinend auch auf einen exotischen Produktionsvorgang zurück, der mono-allelischen Genexpression. Nur der Zufall entscheidet dabei, so glauben die Genetiker, ob die Zelle dabei das mütterliche, das väterliche oder beide Allele abliest. Die Arbeiten von Alexander Gimelbrant und seinen Kollegen vor wenigen Wochen in "Science" zeigen nun, dass dieses Lottospiel der Zelle wohl nicht nur auf Exoten zutrifft.
Mehr als 1000 Möglichkeiten zur Kombination
Die Humangenetiker von der Harvard Medical School in Boston nutzten zur Aufklärung DNA-Chips, um die RNA und DNA von Genen zu untersuchen, die einen "Single-Nucleotid"- Polymorphismus in ihrer Sequenz aufweisen. Als Ausgangsmaterial dienten ihnen dabei lymphoblastoide B-Zelllinien, die sowohl ihre Polymorphismen, als auch ihre Methode der Genexpression an direkte Klon-Nachkommen stabil weitergeben. Auf diese Weise konnte das Harvard-Team rund 4000 Gene auf ihre Genexpression hin untersuchen, weil sich die beiden Allele durch ihre Sequenz ihres direkten Transkripts unterschieden. Und dabei erlebten sie eine Überraschung: Anstatt der nur wenigen erwarteten Exemplare zeigten rund zehn Prozent der Gene ein Zufallsmuster, bei dem die Zelle nur eines der beiden Allele abgelesen hatte. Die Untersuchung verschiedener Zellklone zeigte, dass sich die Evolution sogar noch mehr Spielraum zum Kombinieren lässt. Denn nur rund ein Fünftel dieser mehr als dreihundert Gene bleibt strikt bei der mono-allelischen Genexpression. Je nach Zelle respektive ihrer Vorfahren nutzen sie manchmal auch beide Schwesterchromosomen zur RNA-Produktion. Hochgerechnet auf das gesamte Genom gäbe es damit mehr als 1000 Gene mit Zufallsauslese beim Ablesen.
Anders als beim "Genetic Imprinting" sind bei dieser Methode der Inaktivierung eines Allels Vater und Mutter gleich wichtig. Die Nutzung eines der beiden Allele ist auch nicht vom DNA-Strang eines Chromosom abhängig, wie es bei der Inaktivierung des überzähligen X-Chromosoms bei Frauen der Fall ist. Denn die Gene, die Gimelbrant und seine Kollegen fanden, sind quer über das gesamte Genom verteilt. Besonders "Gene für Rezeptoren an der Zelloberfläche sind in dieser Gruppe überrepräsentiert" so schreibt Ralf Ohlsson von der schwedischen Universität von Uppsala in einem Begleitkommentar in "Science". Durch die Regulation der Rezeptoren, so Ohlsson, ergäbe sich ein enormes Potential an Regulation von Zell-Zell-Kontakten, und damit auch von "Diversität und Schicksal von Zellen".
Gleiche Gene - Unterschiedliches Krankheitsrisiko
Unter den Genen mit mono-allelischer Expression fanden die Forscher unter anderem das "Amyloid Precurser Protein APP", das bei der Entstehung von Alzheimer eine Rolle spielt. Ralf Sudbrak vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin zeigt im Interview mit DocCheck an einem Beispiel die möglichen Konsequenzen im medizinischen Bereich auf: "Bei eineiigen Zwillingen könnte eine Kopie eines Risiko-Gens für eine Krankheit inaktiv sein. Durch mono-allelische Genexpression fällt dann die andere Kopie ebenfalls aus" Die Folge: unterschiedliche Entwicklung von Krankheiten der beiden Geschwister trotz identischem DNA-Code.
Als vor einigen Jahren das menschliche Genom sequenziert wurde, fragte man sich, warum der Mensch im Vergleich zur Fliege nur mit etwa doppelt so vielen Genen auskommt. Möglicherweise gibt die Veröffentlichung von Gimelbrant eine der möglichen Antworten. Denn durch die Kombination zufälliger mono-allelischer und bi-allelischer Expression lässt sich eine Fülle neuer Variationen aus gleichem Grundmaterial erstellen. Neben dem "Warum" werden sich wohl nun zahlreiche Arbeitsgruppen daran machen, mit Daten die Rätsel der überraschenden Entdeckung aufzuklären. Wie inaktiviert die Zelle ihre Gene in diesem Expressions-Münzwurf? Welche Gene sind besonders betroffen und wie viele? Die nächste Folge der spannenden Geschichte bestimmt demnächst in "Science", "Nature" oder "Cell".