Auch behinderte Menschen haben ein Recht auf eigene Kinder - und können selbst bei schweren Beeinträchtigungen auf einen glückliches Leben mit Nachwuchs hoffen. Da dies nicht immer ohne Probleme funktioniert, sehen sich die Betroffenen vielen Vorurteilen aus der Gesellschaft ausgeliefert. Meistens grundlos, wie Studien belegen.
Das Baby des behinderten Elternpaares schrie derart heftig, dass der Vater nur wenige Stunden nach Eintreffen des Nachwuchses das Weite suchte: Eine Etage oberhalb der eigenen Wohnung suchte er bei einem Freund Zuflucht, vom Kind wollte der Mann von nun an nichts mehr wissen. Auch die Mutter kapitulierte vor den intensiven Klängen des Winzlings in den eigenen vier Wänden - nach nur fünf Tagen gaben beide Eltern das "Baby" entnervt ab.
Das Experiment mit dem eigens dazu entwickelten Babysimulator, den die Lebenshilfe unlängst durchführte, gilt in Fachkreisen als richtungsweisend. Behinderte Menschen, so die Erkenntnis der einmaligen Studie, können gute Eltern sein - mitunter aber erst dann, wenn ihnen eine adäquate Betreuung vorab und damit noch vor der Elternschaft den Weg zum Familienglück ebnet. Die Ergebnisse der Studie der Bundesvereinigung Lebenshilfe sind unmissverständlich.
Ausnahmslos verantwortungsvoll
"Bei der Auswertung der Erfahrungen wurde erkennbar, dass die behinderten Menschen ausnahmslos verantwortungsvoll mit "ihren Babys" umgegangen waren. Alle waren sich aber einig, dass sie sich für ein Kind noch nicht erwachsen genug fühlen", hieß es dazu in der "Lebenshilfe Zeitung".
Tatsächlich hatten sich sechs Paare, die geistig oder psychisch behindert waren, im Rahmen der Studie mit dem Thema Elternschaft und Behinderung auseinandergesetzt. Drei der teilnehmenden Paare lebten dabei in der eigenen Wohnung, ein Paar war seit über drei Jahren verheiratet. Um den Teilnehmerinnen und Teilnehmern den Zugang zur Familienplanung zu ermöglichen, setzten die Leiter zunächst auf Aufklärung: Broschüren der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Bücher dienten als theoretische Wegbereiter. Zudem lernten die Behinderten mit Material des Schulbiologiezentrums Hannover anhand lebensgroßer weiblicher und männlicher anatomischer Modelle, wie die Sexualität des Menschen funktioniert. Ein anderes Modell wiederum zeigte den Austritt des Kindes aus der Scheide - und verdeutlichte auf diese Weise, dass eine Geburt alles andere als einfach ablaufen kann.
Mehr als 1.000 geistig behinderte Eltern leben in Deutschland mit ihren Kinder. Wie groß die Zahl des Nachwuchses ist, bleibt nach wie vor unbekannt, die Lebenshilfe geht von etwas über 1400 Kindern aus. Doch nur 40 Prozent der Kinder haben eine Chance, bei ihren Eltern groß zu werden, der Rest wird adoptiert oder wächst bei Großeltern und in Pflegefamilien auf.
Aufklärung ist unabdinglich
Behinderte Eltern über die Chancen - und Risiken - ihrer Elternschaft rechtzeitig aufzuklären ist eine wichtige Aufgabe der Ärzte, denn lediglich 30 bis 40 Prozent der geistigen Behinderungen sind auch auf den Nachwuchs vererbbar.
Dass Menschen mit geistigen Behinderungen bei einer adäquaten Betreuung Kinder haben sollten, bezweifelt hierzulande niemand. Gleichwohl stehen dem Kinderwunsch nicht selten anatomische Behinderungen im Weg - lediglich 15 bis 20 Prozent der mittel- bis schwerbehinderten Menschen sind rein körperlich in der Lage, miteinander Sex zu haben. Doch diese Schwierigkeiten lassen sich auf mehreren Wegen umgehen. So setzen die Ärzte in vielen Fällen auf die sogenannte In-Vitro-Fertilisation (IVF), andere Institute favorisieren die Intracytoplasmatische Spermieninjection (ICSI).
Welche Methode zum Einsatz kommt, bleibt letzten Endes eine Frage der individuellen Therapie. Fest jedoch steht: Der Boom mit dem Kinderwunsch hält an und erreicht inzwischen auch jene, deren Kinderwunsch gesellschaftlich bislang nur allzu oft tabuisiert wurde.
Lösung PID?
Allerdings: Brisant werden hierzulande künstliche Befruchtungen immer dann, wenn die Eltern in spe gleichzeitig auf die Segen der Präimplantationsdiagnostik (PID) setzen wollen. Denn im Falle einer künstlichen Befruchtung können die Embryonen mit Hilfe dieser Technik auf Erbkrankheiten untersucht werden, bevor sie der Frau eingepflanzt werden - eine Methode, die in Deutschland bislang verboten ist. Tatsächlich ebnete das Verfahren, erst einmal uneingeschränkt zugelassen, womöglich den Weg zum Designerbaby, wie viele Kritiker befürchten. Vieles bleibt daher ungeklärt. Wer soll, wer darf entscheiden, wann die künstliche Befruchtung zustande kommen kann? Und wann wäre der Punkt erreicht, an der für die Patientin trotz PID ein Recht auf Nichtwissen besteht? Schon bei Eltern ohne Behinderung sind solche Fragen kaum zu lösen - für die meisten Behinderten erscheinen sie hingegen in einem ganz anderen Licht: Rechtzeitiges Wissen kann helfen, die bevorstehenden Herausforderungen meistern zu lernen.
Es sind Fragen wie diese, die auch Bundesforschungsministerin Annette Schavan im April 2007 dazu veranlassten, den Deutschen Ethikrat als unverzichtbares Instrument der Gesellschaft ins Leben zu rufen. "Die Politik muss den Fortschritt in den Lebenswissenschaften für neue Heilmethoden ermöglichen und die Würde des Lebens wahren", sagt die Ministerin, vor allem gehe es dabei um zentrale Fragen wie den Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik und deren Folgen.
Der Alltag für Menschen, die trotz ihrer Behinderung eigene Kinder haben wollen, sieht freilich nicht anders aus als bei jeden anderen Elternpaaren auch. Das Versuchsseminar der Lebenshilfe beispielsweise endete mit einem Ereignis, über das die Teilnehmer womöglich noch heute schmunzeln: Ein Teilnehmer schlief während der Theoriestunden am Vormittag ein - die Nacht zuvor hatte er sich nahezu ohne Unterbrechung und weitaus liebevoller als viele gesunde, real existierende Väter-Pendats, um sein schreiendes, 3,5 Kilogramm schweres elektronisches "Baby" gekümmert.