Hohe Kosten, fragwürdiger Nutzen, gefilterte Informationen: Ärzten werden häufig bestimmte Medikamente empfohlen, wenn sie ihrer Pflicht zur Fortbildung nachkommen. Der Hersteller dieser Arzneien ist dabei zugleich Sponsor der Veranstaltung. Doch es regt sich Widerstand.
Freundlich, kollegial, kompetent – so begrüßt Privatdozent Dr. Klaus Bonaventura am Samstag Morgen des 11. Februar als erster Redner seine Gäste. Im Saal des Hotel Hollywood am Berliner Kurfürstendamm sitzen rund 150 Ärzte. Sie nehmen teil am Fortbildungskolleg Praxis-Depesche. An diesem Tag werden sie insgesamt neun Vorträge hören und neun CME-Punkte bekommen, die sie sich anrechnen lassen, um ihrer Pflicht zur Fortbildung nachzugehen. Bonaventura spricht von Arzt zu Arzt, pars inter pares. Als Spezialist für Angina pectoris informiert er heute Internisten, Hausärzte und Allgemeinmediziner über den neuesten Stand der Leitlinien. An den Tischen herrscht Konzentration, viele schreiben mit, andere fotografieren mit dem Handy die Grafiken, die der Projektor an die Wand wirft. Es geht um Beta-Blocker, Langzeitnitrate und ACE-Hemmer, und es geht konkret um bestimmte Medikamente. Bessere Belastungsdauer, weniger Angina pectoris „Die Leitlinien weisen auf Substanzen hin, auf die ich kurz eingehen möchte, nämlich das Ivabradin und das Ranolazin“, sagt Bonaventura. Er skizziert die Vor- und Nachteile von Ivabradin, kommt dann zu Ranolazin: „Für das Ranolazin ist in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass die Patienten eine bessere Belastungsdauer und weniger Angina pectoris haben und dass EKG-Veränderungen auftreten“. Bei Diabetikern wirke es besonders gut, es gebe keine Einschränkung bei Störungen des Sinusrhythmus oder bei Vorhofflimmern wie bei Ivabradin, sondern sei bei jedem Rhythmus einsetzbar. „Es gibt nur ein Sache, die wirklich zu beachten ist: Ranolazin sollten Sie nicht bei Patienten mit einer GFR unter 30 geben. Ansonsten ist es, muss man sagen, kein Problem“, so der Dozent. Schließlich kommt Bonaventura auf die Dosierung zu sprechen: „Man fängt an, sagt die Empfehlung, mit zweimal 375 mg. Ich muss gestehen, ich fange in der Regel immer mit zweimal 500 mg an.“ Wenn der Patient gut reagiere, gehe er „automatisch immer“ auf zweimal 570 mg. „Es hört sich so viel an“, so der Dozent weiter, „aber in der Studienlage haben wir [...] eine extrem gute Verträglichkeit und gute Ergebnisse, in den USA sogar für zweimal 1500 mg. Aber in Europa ist es nur zugelassen für zweimal 750 mg. Also keine Angst vor der Dosierung von zweimal 750.“
Die Sache hat gleich mehrere Haken. Erstens: Ranolazin (Ranexa) wird von Berlin-Chemie Menarini hergestellt – das Unternehmen sponsert – wie auf der Einladung vermerkt – die Veranstaltung an diesem Tag mit 18.570,90 Euro. Zweitens: Ranexa kostet in einer 60-Stück-Packung von 375 mg 84,95 Euro. Ein gängiger Beta-Blocker wie Bisoprolol hingegen schlägt in einer 100-Stück-Packung mit nur 13,77 Euro zu Buche. Drittens: Der Dozent hat nicht, wie andere, zu Beginn des Vortrags eventuelle Interessenkonflikte offengelegt. Viertens: Die Wirksamkeit des Arzneimittels ist keineswegs so positiv, wie von Bonaventura dargestellt. Im Arzneimittel Telegramm (at) steht zur Zulassung von Ranolazin (Ranexa) 2009: „Die Indikation ist beschränkt auf die Zusatztherapie, wenn Erstwahlmittel wie Betablocker oder Kalziumantagonisten nicht ausreichen oder nicht toleriert werden. [...] Ob Ranolazin bei Patienten mit Beschwerden trotz optimaler antianginöser Therapie einen Zusatznutzen hat, ist somit nicht untersucht.“
Auf die Frage einer Ärztin aus Höxter, die sich 2014 über eine ähnliche Anpreisung des Medikaments auf einer Fortbildungsveranstaltung wundert, steht im at zu lesen: „Bei Patienten, die trotz optimaler antianginöser Therapie weiterhin Beschwerden haben, ist Ranolazin (Ranexa) unverändert nicht hinreichend geprüft. In der zugelassenen Indikation, der symptomatischen Therapie der chronisch stabilen Angina pectoris, wenn Standardmittel nicht ausreichen, ist sein Stellenwert weiterhin unklar. Wir sehen daher nach wie vor keine Indikation, –Red.“ Auch Wirkstoff aktuell kommt in der Ausgabe 02/2011 zu einem knappen und deutlichen Ergebnis: „Ranolazin (Ranexa) erhöht die Behandlungskosten und bringt keinen Vorteil. Mittel der Wahl sind Betarezeptorenblocker.“ Die Behandlungskosten beliefen sich auf mehr als 800 Euro jährlich – Betarezeptorenblocker hingegen auf nur 45,81 Euro.
Der Vortrag über Angina pectoris ist kein Einzelfall. Auch bei der zweiten Vorlesung des Tages wird ein Medikament besonders gepriesen. Dozentin Dr. Ute Koch stellt Febuxostat als von den Leitlinien empfohlenes und bestes Mittel gegen Gicht vor. Laut einer at-Einschätzung von 2010 ist das Mittel jedoch wenig hilfreich für schmerzgeplagte Patienten: „Ob Febuxostat langfristig besser vor Gichtanfällen oder anderen Manifestationen der Gicht schützt, ist nicht bekannt.“ Zudem sei das Medikament mit 42,40 Euro bei einer Tagesdosis von 80 mg wesentlich teuerer als ein Allopurinolgenerikum wie zum Beispiel Allopurinol. Febuxostat wird vertrieben unter dem Handelsnamen Adenuric, für das im Vorraum der Veranstaltung leuchtend bunte Plakate und zuvorkommende Damen werben. Das Fachblatt Gute Pillen, schlechte Pillen (GPSP) schreibt, das seit 50 Jahren bewährte Allopurinol sei trotz massiver Werbung für Febuxostat therapeutischer Standard: „Da wird es erfahrene GPSP-Leser nicht wundern, dass das neuere Präparat sechsmal so viel kostet wie Allopurinol“, heißt es in der Ausgabe von Mai 2016. Und weiter: „Obwohl nur 7 Prozent der Patienten Febuxostat verordnet bekommen, verursacht das Mittel bei den Krankenkassen bereits 27 Prozent der Behandlungskosten von Gicht. Tendenz rasch steigend.“
Das Berliner Fortbildungskolleg ist kein Einzellfall. Rund 80 Prozent aller Fortbildungen sind von der Pharmaunternehmen beeinflusst, schätzt die Vereinigung „Mein Essen zahle ich selbst“ (Mezis). Die Ärztevereinigung wehrt sich gegen die Geschäftsinteressen der Industrie im Gesundheitswesen. „Wir schätzen, dass etwa 80 Prozent der Fortbildungsveranstaltungen, auf denen auch CME-Punkte vergeben werden, von Pharmafirmen gesponsert oder ausgerichtet sind“, sagt Geschäftsführerin Christiane Fischer. „Wir fordern von den Landesärztekammern, dass es diese Continuous Medical Education Points auf gesponserten Veranstaltungen nicht vergeben werden.“ Roland Holtz „Die Fortbildung der Ärzte ist heute, im Gegensatz zu der vom Gesetzgeber intendierten Absicht, eine der wohl effektivsten Vermarktungsplattform der Pharmaindustrie“, sagt Roland Holtz, ehemaliger Pharmareferent und heute Sachverständiger für Arzneimittelsicherheit: „Es gelingt der Pharmaindustrie regelhaft, auch solche Produkte mit hohem Erfolg im Markt zu platzieren, deren Nutzen sowohl vom BGA als auch vom IQWiG als fragwürdig eingestuft wird.“
Das Vorgehen laufe stets nach einem ähnlichen Schema, sagt Holtz: „Im ersten Schritt schildert man die Indikation in allen Variationen. Dann geht es weiter mit der Verteilung der Erkrankung, dem volkswirtschaftlichen Schaden, der Therapie. Studien belegen die Vorteile eines bestimmen Präparats. Die Anwendungsbeobachtungen schließlich untermauern diese.“ Perfide sei, dass der vortragende Arzt quasi zu Pharmareferenten werde, so Holtz: „Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass Ärzte, wenn sie neue Arzneimittel einsetzen, wesentlich eher auf den Rat von Kollegen hören, als wenn Pharmareferenten ihnen entsprechende Empfehlungen machen. Das ist logisch und nachvollziehbar.“ Hinzu käme, dass Ärzte am Ende der Fortbildungen häufig Tests absolvieren müssten, wo sie das Gelernte wiederholten und so besser memorierten. Zudem brächten Dozenten ihre Therapieempfehlung in Verbindung mit den aktuellen Leitlinien – auch Bonavetura und Koch haben dies getan. „Die Leitlinien aber sind für Ärzte essenzielle Grundlage ihrer Therapie.“
Verantwortlich für die Qualität der Fortbildungen sind die Ärztekammern. Dass es überhaupt für Hersteller möglich ist, für bestimmte Medikamente zu werben, liegt in diesem Fall an den Regularien der Ärztekammer Berlin. „Diesen Regularien zur Folge sind ein Sponsoring ärztlicher Fortbildungsmaßnahmen und die Zuerkennung von Fortbildungspunkten miteinander vereinbar“, schreibt Pressesprecher Sascha Rudat auf Anfrage von DocCheck. „Ein Industrie-Sponsoring wird nicht per se als eine Gefahr für die ärztliche Fortbildung angesehen. In Zeiten, in denen eine öffentliche Finanzierung ärztlicher Fortbildung nicht existiert, zählt das Sponsoring auch zu den ‚Ermöglichern‘ ärztlicher Fortbildung.“ Wichtig sei aber, dass durch ein Sponsoring keine Beeinflussung der vermittelten Fortbildungsinhalte erfolge, so der Sprecher. Kontrollieren lasse sich dies schwer, denn die Ärztekammer prüfe Veranstaltungen, wenn der Antrag einginge. Eine persönliche Kontrolle der dort vermittelten Inhalte sei aber wegen der großen Zahl retrospektiv nicht möglich.
Für Christiane Fischer von Mezis wäre das Problem ganz schnell behoben. Ihre Lösung ist so einfach wie radikal: „Wer auch immer eine Fortbildung ausrichtet oder sponsert, muss das angeben. Sobald Werbung im Spiel ist, gibt es keine Fortbildungspunkte mehr. Wir möchten, dass es überhaupt kein Sponsoring mehr gibt. Von nun an und in die Zukunft sollen Werbung und Informationen strikt getrennt sein. Dann hätten wir das Problem gelöst.“ Diese Option sieht die Ärztekammer nicht, so Rudat: „Gute ärztliche Fortbildung kostet Geld und ist gänzlich ohne Sponsoring nur zu bekommen, wenn der Steuerzahler bereit wäre, wie etwa in Kanada jährlich 4.000 Euro pro Arzt für dessen Kompetenzerhalt aufzubringen.“
So gilt es für Ärzte, auf Veranstaltungen wachsam zu sein. Auf dem Fortbildungskolleg in Berlin unterscheiden sich die folgenden drei Vorträge deutlich von den ersten zwei: Die Dozenten legten offen, bei welchen Konzernen sie Vorträge hielten und berichteten über ihr Thema, ohne ein bestimmtes Medikament auch nur zu erwähnen. So auch Onno Janßen, der Dozent zum Thema Schilddrüse. Er ist Facharzt für Innere Medizin am Endokrinologikum Hamburg und macht seine Haltung gleich zu Anfang des Vortrags deutlich: „Alles, was ich sage, ist in keiner Weise beeinträchtigt oder geleitet von irgendwelchen Interessen. Das geht auch gar nicht, das kann man nicht machen.“ Doch, kann man.