Sie empfinden weder Glück noch Trauer, kennen weder Eifersucht noch Hass, wissen nicht, was es heißt, verliebt zu sein - Menschen, deren gefühlsmäßige Wahrnehmung blockiert ist. Alexithymie nennt die Wissenschaft die Erkrankung, "Gefühlsblindheit." Jeder Zehnte, so eine Studie der Universitäten Leipzig und Düsseldorf, ist blind für Gefühle.
Alexithymie, so steht im "Pschyrembel" zu lesen, ist das "Unvermögen, Gefühle hinreichend wahrzunehmen, zu beschreiben und von körperlichen Folgen einer Belastungssituation zu unterscheiden." Kurz, ein gestörter Zugang zum eigenen emotionalen Erleben.
Einerlei ob Wut, Freude, Trauer, Glück, Hass, positives oder negatives Gefühl: Alexithyme können es weder einordnen noch benennen. Wie Taube im Konzertsaal... "Diese Menschen sprechen von Gefühlen wie Farbenblinde, die von Farbe sprechen", so der Neurowissenschaftler und Psychosomatiker Professor Matthias Franz von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er beschäftigt sich eingehend mit jenem Phänomen, das schnell ins gesellschaftliche Abseits manövrieren kann: Kaum eine andere psychologische Störung erschwert das menschliche Miteinander so sehr wie Gefühlsblindheit.
Emotionales Analphabetentum
Für Alexithyme bleibt das Tor zu ihrer eigenen Gefühlswelt verschlossen. Statt zu fühlen, werden sie eher krank: Das Risiko für Depressionen, psychosomatisch bedingte körperliche Funktionsstörungen, Bluthochdruck und Schmerzen ist bei alexithymen Menschen dramatisch erhöht. So weisen bis zu vierzig Prozent der Patienten mit chronischen Schmerzen alexithyme Charakteristika auf. Auch bei zahlreichen Patienten mit Somatisierungsstörungen finden sich ausgeprägte Probleme mit der emotionalen Expressivität. Wie diese entsteht, blieb jahrzehntelang ein Rätsel. Inzwischen kommen Neuropsychologen den Ursachen langsam auf die Spur. Demnach ist Alexithymie keine angeborene Persönlichkeitsstörung, sondern wird vielmehr früh im Leben durch ein Trauma erworben.
Studien zeigen, dass der Zugang zur Gefühlswelt grundlegend durch die Beziehung zu Mutter und Vater geprägt wird. Ist das Verhältnis zu diesen zentralwichtigen Bezugspersonen in den kindlichen Entwicklungsjahren gestört, hat das weit reichende Folgen. Wie unter anderem Alexithymie: Davon Betroffene mussten meist in der Phase des frühen emotionalen Lernens Defizite hinnehmen. Neben einer traumatisierten Kindheit können auch schreckliche Erlebnisse im späteren Leben zu Alexithymie führen. Dann dient die Blockade der seelischen Empfindungsfähigkeit als Selbstschutz: Das "Ausschalten" der Gefühlsebene hilft, die erlittene Traumatisierung besser zu ertragen.
Gefühle sichtbar machen
Einblick in das emotionale Dunkel verschaffen auch bildgebende Verfahren. Positronen-Emissions-Tomographie und Kernspintomographie (fMRT) liefern erstaunliche Details, wie das Gehirn Emotionen wahrnimmt und verarbeitet - wertvolle Informationen für die Erforschung der Alexithymie. So zeigen gefühlsblinde Menschen Funktionsveränderungen in Gehirnbereichen, die der zentralen Verarbeitung emotionaler Reize dienen: Besonderheiten, die auf eine beeinträchtigte Evaluation und Symbolisierungsfähigkeit entsprechender Informationen schließen lassen.
Vieles spricht dafür, dass bei Gefühlsblinden das limbische System nicht richtig mit dem präfrontalen Cortex vernetzt ist. Dies ergaben unter anderem Messungen der Hirndurchblutung, während der die Patienten an eine extrem emotionale Situation denken sollten; etwa den Tod eines nahe stehenden Menschen. Die Reaktionen im limbischen System, Zentrum der Gefühlsverarbeitung, waren minimal. Rege Aktivitäten zeigten sich dagegen im Stirnlappen. Diese Region des Gehirns ist in der Lage, die Weiterleitung emotionaler Reize zu unterbinden. Das könnte die neurobiologische Ursache für die Gefühlsblindheit sein. Demnach ist Alexithymie nicht das Fehlen von Gefühlen, sondern ihre Unterdrückung. Wissenschaftler der Universität Greifswald haben noch eine andere Erklärung gefunden. Ihren Erkenntnissen nach scheint bei Gefühlsblinden der Informationsfluss zwischen den beiden Gehirnhälften gestört zu sein. An unterschiedlichen Stellen gespeicherte Informationen können offensichtlich nicht mehr zusammengesetzt werden, erläutert der Leiter der Psychiatrischen Klinik der Universität Greifswald, Professor Harald Freyberger, die Untersuchungsergebnisse.
Diese, wie auch die Ergebnisse anderer Forscher, lassen inzwischen nicht nur Alexithymie, sondern auch Depression, Schizophrenie und andere psychische Erkrankungen in einem neuen Licht erscheinen. Darin werden auch mögliche Behandlungsstrategien sichtbar. Ob man Gefühlsblinden damit allerdings helfen kann, weiß niemand. Doch immerhin sind laut Prof. Franz "auch die Gehirne Erwachsener noch unglaublich wandlungsfähig." Derzeit ruhen die Hoffnungen auf Gesprächs-, Körper- oder Gruppentherapien. Sie sollen den Patienten das Tor zur Welt der Gefühle wieder öffnen.