Schlagworte wie "mündiger Patient" oder "Patient als Partner des Arztes" sind im Zeitalter des Web 2.0 in aller Munde. Und tatsächlich: Täglich öffnen sich dem Patienten neue Tore zur Welt der Gesundheitsinformation. Doch die permanente Wissensflut überfordert viele Patienten mehr als dass sie ihnen hilft. Das fand jetzt eine Bremer Studie heraus.
Die Studie im Überblick
Die Zahlen klingen eindeutig: zwei von drei Patienten (67 Prozent) bemühen sich vor oder nach einem Arztbesuch um zusätzliche Informationen. Mehr als 50 Prozent diagnostizieren ihr Leiden mithilfe von Informationen über das Internet bereits vor dem Aufsuchen eines Arztes - 18 Prozent machen dies sogar regelmäßig. Und beinahe die Hälfte aller befragten Personen mit Internetzugang hat im letzten Jahr ein- bis zweimal im WWW nach Gesundheitsinformationen gesucht. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie, die das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen (ZeS) im Auftrag des Bremer Senators für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales durchgeführt hat. 3600 Personen im Alter von 18 bis 80 Jahren befragte das ZeS hierfür, dies ist eigenen Angaben des Instituts zufolge die inhaltlich umfassendste Studie, die es zum Thema Patienteninformation in Deutschland bislang gibt.
Doch trotz des Willens, sich regelmäßig zu informieren, und trotz der Flut täglich neuer Gesundheitsportale bleibe der Patient zwar mündig, aber verunsichert zurück, so das Studienresultat. Gibt es inzwischen gar ein Zuviel an Informationen oder stößt der Patient auf falsche Informationen, die ihn noch mehr verwirren? Was wollen Patienten überhaupt - und was halten Ärzte von diesen Wünschen?
Information overload: immer mehr Entscheidungshilfen
Am Anfang stand der Wille Einzelner, endlich einmal den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. So entwarf die Regierung 1999 eine "Charta der Patientenrechte in Deutschland", in der erstmals das "Recht des Kranken auf sorgfältige Information" geschrieben stand. Einige Jahre später, 2003, setzte sich Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt für das Amt einer Patientenbeauftragten ein. Außerdem gab sie dem Willen vieler Patientenorganisationen nach, Patientenvertreter in das oberste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung - den Gemeinsamen Bundesausschuss - zu berufen. Das alles waren Trippelschritte im Vergleich zu dem, was in den vergangenen Jahren folgte. Es entstanden Patienten-Portale auf den Seiten der ärztlichen Interessensvertretungen, die Bundesärztekammer und andere ärztliche Fachgesellschaften richteten Foren und Aktionsbündnisse für die Sicherheit der Patienten ein. Krankenkassen und Apotheken erhöhten den Umfang ihrer (Versicherten)-broschüren, Selbsthilfegruppen nahmen zu. Vor wenigen Wochen erst erhielten Patienten die frohe Botschaft, bald Einblick in einzelne Qualitätsparameter von Krankenhäusern zu erhalten. Pflegeheime werden mit der Veröffentlichung von Qualitätsberichten ihrer Häuser nachziehen, hieß es Anfang Juli. Und nicht zuletzt ging die Techniker Krankenkasse mit einem virtuellen Dialogsystem an den Start, bei dem der Computer mit dem Patienten über dessen Rückenschmerzen fachsimpelt. Fortsetzungen werden folgen.
Selektion von Informationen: geht das überhaupt?
Warum die Vielzahl an Informationsmöglichkeiten überhaupt erst vom Patienten nachgefragt wird, weiß Wolfram Arnim Candidus von der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten (DGVP). "Der Versicherte versteht das Gesundheitswesen nicht mehr so wie früher", ist der DGVP-Vorsitzende überzeugt. Damals habe die Krankenversichertenkarte ausgereicht, um alles Notwendige zu erhalten, heute werde scheibchenweise - ohne viel Erläuterung - rationalisiert. Außerdem werde der Patient bei der Behandlung nicht ausreichend aufgeklärt. Aus Zeitmangel des Arztes, und weil die entsprechende Vergütung für diese Aufklärung fehle. "Dies führt zu der weit verbreiteten Verunsicherung", sagt Candidus gegenüber DocCheck. Diese Ansicht vertreten auch viele Ärzte. Durch die neuen Wahltarife der Krankenkassen und die Zunahme an Selektivverträgen entsteht nach Ansicht von Kuno Winn ein dauerhaft hoher Informationsbedarf des Patienten. "Den können Ärzte nicht länger befriedigen, vor allem nicht ohne Vergütung", betont der Vorsitzende des Hartmannbundes - eines Traditionsverbandes innerhalb der Ärzteschaft.
Die über das Internet gewonnenen Informationen könnten diese Verunsicherung nur zum Teil ausräumen, glaubt Candidus. Schließlich sei ein hoher Grad an Verständnis für die einzelne Indikation, Diagnose und Therapie erforderlich, um die Informationen auch wirklich zu begreifen. Stefan Etgeton, Referent bei der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv), ergänzt: "Vor allem ist meistens nicht klar, mit welcher Interessenslage das jeweilige Informationsangebot verbunden ist." Denkbar sei beispielsweise, dass die Industrie hinter einer Website stecke, aber auch Informationen von Krankenhäusern, (Zahn-)Ärzten oder Alten- und Pflegeeinrichtungen könnten geprägt sein. Eine Orientierungshilfe ist nach Ansicht Etgetons das Aktionsforum Gesundheitsinformationssysteme. Das biete eine Transparenzprüfung an und vergebe dafür ein zeitlich begrenztes Qualitätssiegel. Oder aber, rät Candidus, der Patient schaue bei einem neuen Forum zunächst auf das Impressum. Dann sei immerhin der Urheber und somit Verantwortliche für die Internetseite erkennbar.
Überinformiert und unsicher: stimmt das wirklich?
Für "überinformiert" ob der Vielzahl an Informationen hält Gerd Marstedt den Patienten von heute dennoch nicht. Der Mit-Autor der Bremer Studie glaubt vielmehr, dass informierte Patienten lediglich Spezialisten für ihre eigenen Beschwerden oder Erkrankungen sind, "Laienmediziner mit Scheuklappe", wie er es nennt. Einer Schweizer Studie zufolge sei das Grundwissen in der Bevölkerung über wirklich bedeutsame gesundheitliche Fakten in allen Bevölkerungsschichten "erschreckend gering". Marstedt: "Von einer Überinformation sind wir noch sehr weit entfernt."