National unterstützte Screening-Programme beim Routine-Besuch in der Praxis werden in ihrer Wirksamkeit massiv überschätzt: Das ist das Ergebnis einer Analyse von Nicola Low, Epidemiologin am Berner Institut für Sozial- und Präventivmedizin. Die unlängst im BMJ publizierte Arbeit könnte den Praxisalltag verändern - nicht nur in der Schweiz.
Die Publikation der Schweizer Epidemiologin ist nur wenige Wochen alt, aber der Inhalt bleibt brisant. Ausgerechnet das von Medizinern in gleich mehreren Studien angepriesene "opportunistische" Chlamydien-Screening -sprich das Screening im Rahmen von Routineuntersuchungen - erweise sichbei näherer Betrachtung als faktisch nutzloses Unterfangen, Als ob das allein nicht Hiobsbotschaft genug wäre, setzt die Ärztin noch einen drauf: Die globale Fehleinschätzung, mutmaßt die Autorin selbstbewusst provokativ, sei die Folge mangelnder Kenntnisse bei der Interpretation der bisherigen Ergebnisse. "Wann werden wir endlich etwas lernen?", fragt sie schon im Titel ihrer Analyse - und liefert danach eine ganze Palette beeindruckender Fakten.
Tatsächlich galt der Versuch, Chlamydien-Infektionen durch opportunistische Screening-Programme zu erfassen zunächst als vielversprechend. So startete in Schweden bereits im Jahr 1982 die erste Untersuchungsreihe an Frauen unter 30 Jahren, worauf bis in die 1990er hinein eine Abnahme der Chlamydien-bedingten Infektionen zu verzeichnen war. Die opportunistischen Screenings als Ursache der rückläufigen Fallzahlen auszumachen schien damit evident - mehr als 80 wissenschaftliche Fachblätter und offizielle Reports feierten den Sieg der Chlamydientests beim Hausarzt.
Nebenerscheinung von Aids-Kampagne
Die vermeintlichen Durchbrüche der Skandinavier führten zudem zum globalen Wettlauf um das beste Programm. So begann auch die US-amerikanische CDC im Jahr 1988 nationale Screenings zu unterstützen, Großbritannien will bis 2008 ein entsprechendes Programm für Frauen unter 25 Jahren durchsetzen. Doch Low warnt vor dem opportunistischen Screening, das bei ärztlichen Routineuntersuchungen angeboten wird. "Es gibt bisher keine verlässlichen Studien, die den Nutzen solcher Screening-Programme für die langfristige Bekämpfung dieser Krankheit beweisen", betont die Wissenschaftlerin.
Vieles spricht dafür, dass die Epidemiologin Recht behält. Zwar nahm in Schweden die Zahl der Infektionen ab, als landesweit opportunistische Chlamydientests durchgeführt wurden. Nur: Dort vergaß man bei der Auswertung der Daten schlichtweg zu beachten, dass im Beobachtungszeitraum auch die Zahl der HIV-Erkrankungen massiv zurückging. Offensichtlich hatte eine zu jenem Zeitpunkt laufende, massive Aufklärungskampagne über die Übertragung von Aids zur Nutzung von Kondomen während des Geschlechtsverkehrs der Getesteten geführt - und somit auch die Chlamydien-Infektionen gestoppt.
Zu vorschnell, folgert daher Low anhand solcher Missgeschicke, habe man den Rückgang der Chlamydien-Infektionen den Tests zugesprochen - ohne die Aussagen empirisch zu checken. Wie Low nun in ihrer eigenen BMJ-Veröffentlichung zeigt, stieg die Zahl der Ansteckungen später in Schweden wieder an - sobald der Effekt der Aids-Präventionsmaßnahmen nachgelassen hatte. "Somit waren diese wohl der wahre Auslöser für ein verändertes Sexualverhalten und den vorläufigen Rückgang der Ansteckungen", konstatiert auch die Berner Universität und weist darauf hin, dass der vermeintliche Erfolg dieses Screenings "unkritisch auch für Screening-Programme anderer Länder übernommen wurde".
RKI warnte schon 2002 vor Chlamydien als heimliche Epidemie
Der globale Run auf die opportunistische Variante schien bis zu Lows Studie begründet: In einer seit Ende 2002 laufenden Erhebung des Berliner Robert Koch-Instituts zu sexuell übertragbaren Infektionen beispielsweise sind Chlamydien die am häufigsten festgestellte Infektion. Bisherige Studien aus Deutschland belegten bei 2,5 bis zehn Prozent der über 14 Jahre alten Mädchen und der Frauen eine Infektion. In der Schweiz liegen keine genauen Zahlen über die tatsächliche Prävalenz vor, doch geht der vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) herausgegebene Gender-Gesundheitsbericht Schweiz 2006 von 2963 Frauen und 1162 Männern aus.
Trotzdem kennen nur wenige junge Frauen den Begriff "Chlamydien". In den Schulen bleibt zudem die Aufklärung zu sexuell übertragbaren Infektionen häufig auf die HIV/AIDS-Prävention beschränkt. Und: In der Schweiz nehmen - wie in anderen europäischen Staaten und in den USA - Chlamydien-Infektionen seit 2000 zu. Laut Low existieren in der Schweiz momentan jedoch weder Richtlinien noch Screening-Programme.
Schweizer Vorschlag: Screening per Post?
Wie die Schweizer Bevölkerung indes ohne opportunistische Screenings auskommen könnte und dabei nicht auf die wichtigen Chlamydien-Untersuchungen verzichten muss, schilderte vor genau einem Jahr ein Ärzteteam am Inselspital Bern. In einer Fachpublikation, die er gemeinsam mit Patrizia Waibl veröffentlichte, wies der Chefarzt Stv. Gynäkologie an der Klinik und Frauenheilkunde, Michael D. Mueller, auf ein trickreiches Modell aus Skandinavien hin.
Dort schickten im Rahmen einer Screening-Studie rund 90 Prozent aller 9000 Teilnehmer ihre Urinprobe samt Vaginalabstrich zur Untersuchung - per Post. Zuvor hatten sie die entsprechenden Testkits ebenfalls als Päckchen erhalten. Waibl und Mueller zufolge liegen die Vorteile des unkomplizierten Verfahrens auf der Hand: Es ließen sich auch jene soziale Gruppen erreichen, "welche einem opportunistischen Screening entgangen wären".
Dank Low weiß nun alle Welt: auf die opportunistische Variante könnte man ohnehin verzichten.