...an der Wand - wer ist der beste Experte im Land? Die englische Wikipedia schwingt sich langsam, aber sicher zum medizinischen Universallexikon der Gegenwart auf. Doch immer wieder gibt es Krieg zwischen den Gralshütern des Wissens. Das Schöne: Es ist alles nachlesbar.
"Hi PP. Du hast kürzlich gefragt, was ich mache und ob ich überhaupt das nötige Expertenwissen hätte um den Artikel über Damadian zu überwachen. Ich bin derzeit Doktorand (...) und habe kürzlich einen Review über die Geschichte der Magnetresonanztomographie geschrieben. (...) Wenn ich mich nicht täusche, bist Du ein Chirurg, der Haartransplantationen macht, oder? Wie konnte ich nur denken, dass ein Student wie ich, der Pulssequenzen schreiben kann, irgendwas von T1- oder T2-Wichtung versteht? Wie konnte ich nur mit jemandem streiten, der vor 30 Jahren MRT gemacht hat und jetzt Haarwasser verkauft..."
Dieser Satz, der aus einem privaten E-Mail-Wechsel stammen könnte, ist tatsächlich Teil eines öffentlichen Schlagabtauschs zwischen zwei Experten, die an einem Wikipedia-Artikel über Raymond Damadian arbeiten. Damadian ist jener MRT-Forscher, der im Jahr 2003 nicht den Medizinnobelpreis für die Entwicklung der medizinischen MRT erhalten hat, obwohl er ihn nach Ansicht vieler verdient gehabt hätte. Bei dem im Text erwähnte "PP" handelt es sich um einen eifrigen Schreiber im Clinical Medicine Project der englischen Wikipedia, der seine Version der Geschichte Damadians zum Besten geben wollte, aber daran gehindert wurde. Die oben wiedergegebene Antwort verfasste ein "JoshuaZ", der mit PP's Version der MRT-Historie nicht so ganz einverstanden war. Der Schlagabtausch, an dem sich auch noch andere Schreiber und einige Administratoren beteiligen, nimmt bisher mehrere Seiten in Anspruch. Er kann - und das ist das großartige an Wikipedia - in voller Länge eingesehen werden, sodass sich jeder, der von dem Thema etwas versteht, seinen eigenen Reim drauf machen kann. Irgendwo in der Mitte wird es besonders amüsant, wenn PP einen anderen seiner Kritiker, "Dunc", des Cyber-Stalking bezichtigt, weil er jeden seiner Einträge torpediere.
Krieg der Tasten
Das Clinical Medicine Project der englischen Wikipedia ist Teil des Wikipedia Medicine-Projects, der englischsprachigen Variante des DocCheck Flexikons. Das Clinical Medicine Project - hier die Startseite für Leser - arbeitet nicht nur mit fleißigen Schreibern, sondern auch mit Administratoren, die neue Einträge überwachen. Sie sind dafür verantwortlich, dass Artikel zu einer beliebigen Indikation nicht mit Werbung durchtränkt werden, und dass keine externen Links auf Seiten gesetzt werden, die dem kommerziellen Interesse eines Arztes oder sonstigen Heilers dienen. Außer zwischen Schreiber und Schreiber kommt es deswegen auch zwischen Schreiber und Administrator immer wieder zu Reibereien, die im Englischen griffig mit "Edit Wars" betitelt werden. Das beschränkt sich keineswegs auf ein Orchideenthema wie die Biographie eines MRT-Forschers. Edit Wars gehen häufig mitten in aktuelle Kontroversen hinein, wie der Streit um den Artikel zum Thema Ganzkörperscan belegt. Auch hierzu fand kürzlich eine relativ umfangreiche Diskussion zwischen einem Schreiber und einem Administrator statt, die wesentlich amüsanter zu lesen ist als der Artikel selbst. Im Kern geht es bei all diesen Diskussionen darum, Regeln festzuklopfen, die garantieren, dass ein medizinischer Beitrag so objektiv wie möglich ist. Um das zu erreichen, verlangt das Clinical Medicine Project möglichst umfangreiche Quellenangaben: "Starke Behauptungen brauchen starke Beweise", schreibt der Administrator "Samir" in dem Dialog mit dem Schreiber "Vicarious" zum Ganzkörperscan-Artikel. Erwünscht sind in erster Linie Verweise auf primäre Wissenschaft, also auf Originalartikel in wissenschaftlichen Zeitschriften. Was am Ende dabei herauskommt, ist demnach eine Art durch PubMed-Verweise auf wissenschaftlich getrimmter Reviewartikel. Einziger Unterschied zum wissenschaftlichen Review: Er sollte in einer Sprache geschrieben sein, die die Allgemeinheit auch versteht.
An der Brust scheiden sich die Geister
Dass das bei Themen, die wissenschaftlich abgefrühstückt und medizinisch unumstritten sind, relativ einfach ist, liegt auf der Hand. Genauso klar ist aber, dass es bei Themen, über die innerhalb der medizinischen Fachwelt noch keine Einigkeit herrscht, fast zwangsläufig zu solchen Edit Wars kommen muss. Einen Vogel schießt in dieser Hinsicht der Beitrag über Brustimplantate ab. Er musste von den Administratoren kürzlich mit einem "protected"-Status ("geschützt") versehen werden, um weiteren Vandalismus zu unterbinden. Dieser Artikel kann demnach im Moment nicht mehr verändert werden. Was in solchen Fällen gemacht wird, ist eine Art Schlichtung, die, wie alle Diskussionen, auf der zugehörigen Talk-Seite stattfindet. Darin versuchen sich die Kombatanten auf eine Basisversion des Texts zu einigen, von der ausgehend dann ein neuer Anlauf genommen wird. Wer jetzt den Eindruck hat, das alles klinge viel zu sehr nach großer Koalition, der hat wahrscheinlich recht. Die medizinische Wikipedia ist Gesundheitspolitik mit anderen Mitteln...