Auf den ersten Blick klingen die Nachrichten wie aus einem Märchen: Nahezu monatlich vermelden Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sinkende Arzneimittel-Ausgaben. Das im April dieses Jahres eingeführte Arzneimittelversorgung-Wirtschaftlichkeitsgesetzes (AVWG) unterstütze die Verschreibung preisgünstiger Arzneien.
Ende August folgte eine weitere Good News für die Patienten. Die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassendehnten die die seit dem 1. Juli 2006 geltenden Regelungen zurZuzahlungsbefreiung auf weitere 130 Festbetragsgruppen aus. Der Clou:Wer ein Mittel kauft, das mindestens 30 Prozent billiger als dieentsprechenden Festbeträge der Kassen ist, braucht die sonst üblichenZuzahlungen von fünf bis zehn Euro pro Medikament seit dem 1. November2006 nicht mehr zu berappen. Für Patienten gleicht der Deal einerEinladung zur Schnäppchenjagd. Bei mehr als 2600 Präparaten entfälltdank AVWG die lästige Zuzahlung, zudem senkten viele Pharmahersteller schon im Vorfeld des Gesetzes die Preise massiv. Neue, heile Welt?
Der Blick hinter die Kulissen offenbart das Gegenteil. Die vomGesetzgeber vorgerechneten Einsparungen in Höhe von rund einerMilliarde Euro im Jahr belasten die Pharmabranche, mit unabsehbarenFolgen für die Patienten. Denn im Sog des AVWG findet auf dem deutschenPharmamarkt "nunmehr ein ruinöser Verdrängungswettbewerb statt", wieHenning Fahrenkamp, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie(BPI), unlängst in Berlin zu bedenken gab. Was bislang Verbraucherlediglich im Handel registrierten, erfasst nun den Arzneimittelmarkt -Geiz ist Geil für Pillenschlucker. Als erstes spürten die deutschenApotheken die Schockwellen des AVWG. So gaben im Juli dieses Jahres dieGesetzlichen Krankenkassen rund 1,9 Milliarden Euro für die Versorgungihrer Versicherten mit Medikamenten aus - das sind 3,5 Prozent wenigerals im Juli des Vorjahres. Bereits im Juni hatten die Ausgaben zweiProzent unterhalb des Vorjahresniveaus gelegen. "Der Ausgabenrückgangist der Wirkung des Spargesetzes AVWG zuzuschreiben, das zum 1. Aprilin Kraft trat", moniert die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) und geht davon aus, dass die Ausgaben für Arzneimittel "auch in den nächsten Monaten sinken werden"
Alle in einem Boot
Betroffen von der rückläufigen Marktentwicklung sind alleMarktsegmente. Legte zum Beispiel der Generikaumsatz im ersten Quartal2006 verglichen mit dem entsprechenden Vorjahreszeitraum noch um 14,3Prozent zu, so ging er im zweiten Quartal um knapp 2,3 Prozent zurück.Vor allem bei diesen Präparaten hat das Verbot der Naturalrabatte zueinem Vorzieheffekt im ersten und einem entsprechend deutlichenRückgang im zweiten Quartal geführt. Gleichwohl blieb über das gesamteerste Halbjahr mit einem Plus von knapp sechs Prozent einüberdurchschnittliches Wachstum übrig. Dagegen setzten dieOriginalpräparate, die nach dem Ablauf ihres Patentschutzes imgenerischen Wettbewerb stehen, ihren Sinkflug fort. Nach einemUmsatzrückgang von 13,6 Prozent im ersten Quartal verzeichneten dieseProdukte im zweiten Quartal sogar einen Rückgang von fast 27 Prozent.Damit betrug ihr Anteil am Apothekenmarkt zuletzt nur noch 12,4 Prozent.
Aus staatlicher Sicht freilich ist die Senkung der Ausgaben beiArzneimitteln dringend geboten. Denn schon die kumulierten Ausgaben fürdie ersten sieben Monate 2006 lagen um vier Prozent höher als imVergleichszeitraum 2005. Über 13,64 Milliarden Euro berappten dieKassen der GKVin diesem Zeitraum für die Medikamente ihrer Mitglieder. Im gleichenZeitraum des Vorjahres waren es noch 13,12 Milliarden Euro. Kurzfristigbetrachtet wäre demnach das AVWG ein Erfolg. Dass die jetzteinsetzenden Einsparungen durch das AVWG neben den Apotheken vor allemdie die kleinen und mittleren Hersteller in Mitleidenschaft ziehenkönnte, befürchtet hingegen Fahrenkamp vom BPI: "Langfristig könntedies dazu führen, dass die Vielfalt pharmakotherapeutischerMöglichkeiten abnimmt, da die Märkte sich weiter konzentrieren werden."
In der Kostenfalle
Der Mann hat womöglich Recht. Denn ein Paragraph im bundesdeutschenGesetzes-Dschungel ermöglicht Pharmaherstellern trotz AVWG die Tür zuhöchst profitablen Geschäften - aber lediglich jenen Unternehmen, dieüber extrem potente, eigene Forschungspipelines verfügen. Der Rest derBranche, die Mehrheit der deutschen Arzneimittelhersteller ohneMilliardenbudgets für Forschung und Entwicklung, gerät hingegen unterDruck. Denn § 35 des fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) reglementiertden Umgang mit den auch in der Öffentlichkeit vielfach diskutiertenFestpreisen für patentgeschützte Medikamente. Die Idee, die dasMinisterium verfolgte, ist in den Grundzügen und vereinfachtdargestellt durchaus lobenswert: Für Mittel, die keine wirklicheInnovation darstellen und dem Patienten keinen Zusatznutzen bringen,sollen so genannte Festbeträge der gesetzlichen Krankenversicherunggelten. Die Kassen bezahlen für solche Medikamente, die je nachWirkstoffarten oder Wirkungsspektrum zu Gruppen zusammengefasst werden,nur noch einen zuvor festgelegten Höchstbetrag - an diesen Überlegungenorientiert sich auch das AVWG.
Aber Absatz 1 Satz 3 enthält die für die Arzneimittelherstellererlösende Formulierung: "...ausgenommen von diesen Gruppen sindArzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, deren Wirkungsweiseneuartig ist und die eine therapeutische Verbesserung, auch wegengeringerer Nebenwirkungen, bedeuten." Im Klartext: Durch geschickteOptimierung der Zusammensetzung können Blockbuster, die pro Packungmehrere Hundert bis tausend Euro kosten, auch weiterhin zu diesenexorbitanten Preisen verkauft werden - und die Kasse muss zahlen, trotzAVWG. Die Umsatzzahlen belegen diesen Trend: patentgeschützte Präparatekonnten ihren Anteil am Gesamtumsatz der Apotheken weiter steigern. Sierepräsentierten auf Basis der Herstellerabgabepreise zuletzt knapp einDrittel (32,6 Prozent) des gesamten Apothekenmarktes.
Genau diese Kostenfalle aber schließt das Gesetz nicht. Auf diese Weisesind - Ironie des Schicksals - vor allem die deutschenPharmaunternehmen der kleinen und mittleren Kategorie, einst als"Apotheke der Welt" geachtet und respektiert, die eigentlichenVerlierer der verordneten Einsparungen. Für Patienten auf Dauer keinegute Nachricht: ohne echten Wettbewerb und am Ende eines jedenKonzentrationsprozesses, lehren Ökonomen, stehen meist neue - undhöhere Preise.