Sind pauschale Blutdruck-Grenzwerte wirklich sinnvoll? In gewissen Sondersituationen ganz klar: nein. Warum das so ist, erklärt Prof. Felix Mahfoud im Vorfeld des diesjährigen Kardiologenkongresses in Mannheim.
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ZusammenfassungIn Sachen Blutdruck gelten die berühmten 120/80 als Richtwert längst nicht für jeden. Ältere Menschen können zum Beispiel durchaus höhere Blutdruckwerte tolerieren.
Komorbiditäten wie die Aortenklappenstenose machen einen vermeintlich simplen Fall von Hypertonus direkt etwas komplizierter. Dank vielfältiger Therapieoptionen findet man auch in schwierigen Fällen eine Möglichkeit. Beispielsweise die renale Denervierung, auf die wir hier genauer eingehen.
Welche Situationen ein genaueres Hinschauen erfordern, wie man diese speziellen Patienten behandelt und warum es so wichtig ist, jeden Patienten mit seinen Besonderheiten zu beurteilen, erklärt Prof. Felix Mahfoud im Video-Interview.
Transkript des Interviews mit Prof. Felix Mahfoud zum Thema: Hypertoniemanagement in Sondersituationen. Es handelt es sich um eine 1:1-Abschrift des Gesprochenen im Video.
Philipp Grätzel: Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe der DocCheck News. Unser Interview heute beschäftigt sich mit dem Hypertoniemanagement in Sondersituationen. Anlass für das Interview ist ein gleichnamiges Symposium auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, das geleitet wird von Prof. Dr. Felix Mahfoud, leitender Oberarzt der Inneren Medizin III am Universitätsklinikum des Saarlandes. Herzlich willkommen, Herr Prof. Mahfoud!
Die in Deutschland relevanten, die in Europa relevanten Hochdruckleitlinien geben für die Hypertonietherapie als Ziel den Grenzwert 120 bis 130 systolisch, 70 bis 80 diastolisch an. In welchen Situationen ist denn dieser pauschale Grenzwert nicht ideal, nicht so hilfreich?
Prof. Felix Mahfoud: Also das sind vor allem Sondersituationen, die sich mit dem Alter beschäftigen, würde ich sagen. In den Leitlinien steht, dass bei Patienten über 65 das Blutdruckziel etwas zurückhaltender ist. 130 bis 140, darunter sollte der Blutdruck liegen, bei Patienten über 65. Ich glaube, in dem Zusammenhang ist es wichtig, dass wir nach der Publikation der letzten Leitlinien einige Studien gesehen haben, die sich mit dem Blutdruckziel bei älteren Patienten beschäftigt haben. Die Take-Home Message davon ist, dass es nicht um das chronologische Alter der Patienten geht, sondern um das biologische Alter. Und die Studien zeigen auch, wenn sie einen Patienten haben, der 75 ist und fit ist, dann profitiert dieser Patient von der engeren Blutdruckeinstellung, also 120 bzw. 120 bis 130.
Philipp Grätzel: Bei den älteren Patienten, die vielleicht nicht mehr topfit sind, wann würden Sie bei erhöhtem Blutdruck überhaupt anfangen, medikamentös zu therapieren?
Prof. Felix Mahfoud: Die Leitlinienempfehlungen sind speziell bei über 80-Jährigen immer vor dem Hintergrund zu sehen, dass Blutdruck ja eine Funktion des Alters ist. Je älter wir werden, je steifer unsere Gefäße werden, desto höher ist auch unser Blutdruck. Und in den Leitlinien ist deshalb festgehalten, dass wir dann therapieren sollten, wenn der systolische Blutdruck über 160 ansteigt. Bei über 80-Jährigen wäre das der Cutoff, wo man sagen würde, jetzt sollte man mit der Therapie anfangen. Das relativiert sich ein bisschen, wenn man einen über 80-jährigen hat mit kardiovaskulären Komorbiditäten, der sonst fit ist, dann würde ich den natürlich auch früher therapieren, nämlich schon bei 140 zu 90.
Philipp Grätzel: Und um jetzt nochmal auf das individuelle Blutdruckziel in genau dieser Konstellation zurückzukommen, also die deutlich älteren, die vielleicht nicht mehr hundertprozentig fit sind. Wovon genau machen Sie dann klinisch das individuelle Blutdruckziel abhängig? Müssen die erst Symptome entwickeln? Gibt es bestimmte Konstellationen, wo Sie sagen, das und das Ziel in der und der Konstellation?
Prof. Felix Mahfoud: Also wir wissen, dass die intensive Blutdruckeinstellung auch bei älteren Patienten vorteilhaft sein kann. Man muss nur eins sagen, und das zeigen die Studien auch, das ist mit Arbeit verbunden, nämlich mit mehr Arztkontakten. Wenn wir einen älteren Patienten intensiv kontrollieren, dann müssen wir nach dem Patienten genau schauen, die Frequenz der Visiten dann entsprechend anpassen, weil die Patienten natürlich Nebenwirkungen der intensivierten Therapie erleiden können. Eine Nierenfunktionsverschlechterung zum Beispiel, die Patienten können auch orthostatische Dysfunktionen aufweisen. Es gibt bestimmte Patienten, die Elektrolytstörungen entwickeln, vor allem in Kombination mit Psychopharmaka. Das sehen wir relativ häufig finden bei polypharmazeutisch behandelten Patienten im Alter. Also ich glaube, man kann das [eine intensivere Blutdruckeinstellung, d. Red.] machen, da muss man nur vorsichtig sein, die Patienten eben entsprechend gut beobachten und im Auge behalten. Ansonsten würde ich sagen, ich mache es abhängig vom Gesamtbild des Patienten. Wir sehen immer wieder, und das ist keine Einzelheit, Patienten, die mit 80 Jahren noch Autofahren, voll im Leben stehen sozusagen. Da sehe ich keinen Grund, diesen Patienten nicht genauso zu behandeln wie einen 65-jährigen Patienten.
Philipp Grätzel: Lassen Sie uns kurz ein bisschen spezifischer in die medikamentöse Therapie eintauchen. Gibt es bestimmte Medikamente, die Sie bei älteren Patienten ohne relevante Komorbiditäten oder ohne spezifische Komorbiditäten, die besondere Erwägungen erfordern, bevorzugt einsetzen oder primär nicht einsetzen würden?
Prof. Felix Mahfoud: Also von den Erstlinienmedikamenten nochmal ACE-Hemmer, Angiotensin-Rezeptorblocker, Calciumkanalblocker, Diuretika, gibt es keinen Unterschied bei älteren oder bei jüngeren Patienten. Die kann man alle gleichwertig einsetzen. Man muss ein bisschen aufpassen, sehr effizient sind Thiazid-ähnliche Diuretika. Nur ich habe es eben schon gesagt: Hypokaliämien und Hyponatriämien können gerade in der Polypharmazie auftreten. Da muss man sicherlich ein bisschen achtgeben.
Und sonst bin ich kein Freund von zentralen Sympatholytika. Da sind wir jetzt im Reservebereich der antihypertensiven Therapie, weil diese dazu führen können, dass Patienten Schwindel entwickeln und dass sich die Sturzhäufigkeit dieser Patienten erhöht. Aber in der Erstlinientherapie gibt es keine Besonderheiten, wo ich sagen würde, das ist eine Substanzklasse, die man nur bei Älteren oder eben nicht bei Älteren geben sollte.
Philipp Grätzel: Komorbiditäten sind bei diesen Patienten ja eher die Regel als die Ausnahme oder eigentlich fast immer vorhanden. Ich will nicht jede einzelne Komorbidität mit ihnen diskutieren, aber eine würde ich ansprechen wollen, weil die auch relativ häufig ist und weil es eine kardiologische Komorbidität ist, nämlich die Aortenstenose. Was ist zu beachten bei Hypertonie-Patienten, die zusätzlich eine relevante Aortenstenose haben, in Bezug auf die Hypertonie Therapie?
Prof. Felix Mahfoud: Dass man die Aortenstenose behandelt, das ist das Wichtigste. Also es gibt keine konservative Therapie für die hochgradige Aortenklappenstenose. Wenn sie symptomatisch ist, muss sie behandelt werden, weil sie eine immer zum Tode führende Erkrankung ist. Das ist eine ganz wichtige Aussage. Nochmal, da gibt es dann auch keine Entschuldigung für, also bei hochgradiger symptomatischer Aortenklappenstenosen. Und da haben wir für die älteren Patienten ja insbesondere die transarteriellen Verfahren, die exzellente Outcomes gezeigt haben, zur Verfügung. Davon sollten wir großzügig Gebrauch machen. Wenn die Aortenklappe nämlich behandelt ist, dann unterscheidet sich die Blutdrucktherapie bei diesen Patienten nicht von einem Patienten ohne Beschwerden.
Philipp Grätzel: Und wie würden Sie bei dem wahrscheinlich nicht ganz seltenen Fall vorgehen, dass Sie eine höhergradige Aortenstenose haben, die aber nicht symptomatisch ist?
Prof. Felix Mahfoud: Also sagen wir, ein Patient hat eine mittelgradige Aortenstenose, da muss man sicherlich ein bisschen mit der Nachlastsenkung aufpassen, aber das darf kein Grund sein, den Patienten mit einem Blutdruck von 200 nicht zu therapieren, weil man sagt, ich habe Angst, die Aortenklappenstenose könnte symptomatisch werden. Klare Vorgaben dazu geben wir auch in dem Konsensuspapier der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie.
Schwierig ist immer ein bisschen die Diagnose der hochgradigen Aortenklappenstenose bei begleitender Hypertonie, aber was die Therapie angeht, man muss die Hypertonie genauso therapieren wie bei Patienten ohne Aortenklappenstenose. Wichtig ist, dass wir verstehen, dass das Herz sowieso schon belastet ist durch die Aortenklappenstenose. Wenn wir eine zusätzliche Nachlasterhöhung haben durch relevante arterielle Hypertonie, dann ist das natürlich eine Doppelbelastung für den linken Ventrikel. Die gilt es zu vermeiden, indem man den Blutdruck entsprechend therapiert.
Philipp Grätzel: Wir reden über die Aortenstenose, wir reden über Katheterverfahren. Es gibt ein anderes Katheterverfahren, das bei der arteriellen Hypertonie zu einer gewissen Prominenz gekommen ist, über mehrere Jahre hinweg: die renale Denervierung. Da gab es anfangs vielversprechende randomisierte Studien, dann wurde ein bisschen zurückgerudert. Dann gab es wieder eine gewisse Gegenentwicklung, das Verfahren schob sich wieder so ein bisschen nach vorne. Was ist im Moment der Stand bei der renalen Denervierung? Wie ist die Datenlage, wie hat sie sich in den letzten Jahren verändert?
Prof. Felix Mahfoud: Also ich glaube, mit den neuen Studien haben wir klar zeigen können, dass dieses Verfahren zu einer Blutdrucksenkung führt bei Patienten mit und ohne begleitende antihypertensive Therapie. Die Blutdrucksenkung hält über drei Jahre an, wir wissen, dass das ein sicheres Verfahren ist und dass es für ausgewählte Patienten Sinn machen kann, sich darüber Gedanken zu machen. Mir ist es immer wichtig, darauf hinzuweisen, dass das keine Heilung der Hypertonie ist und dass das nicht eine Therapie ist für jeden Hypertoniepatienten. Aber wir alle kennen Patienten, die schwierig zu kontrollieren sind, die mit multiplen Medikamenten keine leitliniengerechte Blutdruckeinstellung erzielen können, oder auch Patienten, die keine Therapie einnehmen können oder wollen. Und für die stellt die renale Denervierung neben Lebensstilmodifikation und antihypertensiver Therapie in medikamentöser Form eine Alternative dar, die man entsprechend evaluieren sollte.
Philipp Grätzel: Was ist denn so der Punkt, wo sie einem schwer einstellbaren Patienten sagen würden: Jetzt sollten wir das mal versuchen, jetzt würden wir Ihnen das empfehlen?
Prof. Felix Mahfoud: Wir haben im Februar ein Konsensuspapier veröffentlicht von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie, das sich auch damit beschäftigt, welche Patienten dafür infrage kommen oder bei welchen man sich darüber Gedanken machen sollte, ob eine renale Denervierung vielleicht sinnvoll sein kann. Und da ist klar verfasst, dass wir das empfehlen, wenn Patienten unter einer dreifach-antihypertensiven Therapie, bevorzugt in einer fixen Kombination, einen Blutdruck haben über 140 zu 90, das Ganze bestätigt in einer Langzeitblutdruckmessung mit Werten über 130 zu 80, und wenn die Nierenfunktion dieser Patienten erhalten ist mit einer eGFR > 40 ml/min. Wenn das der Fall ist, dann ist es prinzipiell ein Patient, bei dem gemäß Konsensuspapier eine renale Denervierung in Betracht gezogen werden sollte.
Philipp Grätzel: Dann würde ich an der Stelle gerne den Schwenk noch mal zurück zum Anfang des Interviews machen, zu den älteren Patienten. Ist das ein Verfahren, das auch für relativ alte Menschen infrage kommt? Gesetzt den Fall, wie Sie geschildert haben, der Blutdruck ist schwer einstellbar oder gibt es da rein altersmäßig, von der Nierenfunktion abgesehen, Probleme bei diesem Verfahren?
Prof. Felix Mahfoud: Also da gibt es keinen klaren Alters-Cutoff, wo man sagen kann, das Verfahren funktioniert nicht mehr oder ist nicht mehr mit einer Blutdrucksenkung assoziiert. Was wir gesehen haben und was dann letztlich auch ein Grund war, warum in den randomisierten, Sham-kontrollierten Studien der diastolische Blutdruck über 90 sein musste, ist, dass Patienten mit einer isoliert systolischen Hypertonie, die einen sehr hohen systolischen Wert haben und einen sehr niedrigen diastolischen Wert, also eine hohe Pulsamplitude, das sind die, die weniger auf den Eingriff ansprechen.
Wenn ich also einen älteren Patienten sehe, der einen sehr hohen systolischen und einen niedrigen diastolischen Blutdruck hat, dann ist das kein Patient, den ich primär für eine renale Denervierung in Betracht ziehen würde. Es sei denn, der Patient ist medikamentös austherapiert und man möchte einen anderen Therapieversuch noch unternehmen. Aber sonst wäre das ein Patient, den ich vielleicht erst im zweiten oder dritten Ansatz dann tatsächlich auch für ein interventionelles Verfahrens vorsehen würde. Sehe ich dagegen einen älteren Patienten, der einen etwas höheren diastolischen Blutdruck hat, also 80, 85, 90, dann gibt es für mich keinen Grund, diesem Patienten eine renale Denervierung vorzuenthalten.
Philipp Grätzel: Abschlussfrage: Brauchen diese Patienten bestimmte Kontrollen, bestimmte Arten von Monitoring nach der Intervention?
Prof. Felix Mahfoud: Wird man immer machen. Wir nachverfolgen unsere Patienten nach drei Monaten, sechs Monaten und dann einmal im Jahr, wenn alles in Ordnung ist. Und wichtig ist, dass sie sich Zentren suchen. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie hat ja mit den anderen Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Nephrologie und Deutsche Hochdruckliga Zertifizierungsprozesse auf den Weg gebracht. Da können sich Zentren zertifizieren, die dieses Verfahren anbieten, sich auf die Therapie komplexer Hochdruckerkrankungen spezialisiert haben. Das kann man auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und der anderen Fachgesellschaften nachprüfen. Wichtig ist, dass man sich ein Zentrum aussucht, das Expertise hat, das die Patienten entsprechend auswählt, sie therapiert und dann auch nachverfolgt.
Philipp Grätzel: Ganz herzlichen Dank, Herr Prof. Mahfoud. Wir haben gesprochen über Hochdrucktherapie in Sondersituationen. Ich fand das sehr spannend. Ich hoffe, Sie, liebe Zuhörerinnen, Zuschauerinnen und Zuschauer, auch.
Prof. Felix Mahfoud: Vielen Dank.
Bildquelle (mobile Ansicht): Cassi Josh, unsplash