Die Osteoporose bekommt zu wenig Aufmerksamkeit – das sagt Osteologin Dr. Friederike Thomasius. Worauf Ärzte bei der Diagnose und Therapie achten sollten, erfahrt ihr hier.
Zusammenfassung:
Osteoporose ist eine häufige Erkrankung, besonders bei älteren Patienten. Sie kann verheerende Folgen wie Wirbelkörperfrakturen nach sich ziehen, wenn man sie nicht adäquat behandelt. Trotzdem wird aktuell nur jeder zweite Patient überhaupt diagnostiziert. Es besteht also großer Verbesserungsbedarf, findet auch Dr. Friederike Thomasius vom Frankfurter Hormon- und Osteoporosezentrum. Sie ist an der Entwicklung eines Fraktur-Risiko-Rechners beteiligt, um Risikopatienten künftig besser herauszufiltern und ihnen die dringend benötigte Therapie zukommen zu lassen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Osteoporose zu behandeln. Bei manchen Patienten reichen Antiresorptiva aus, andere benötigen jedoch eine osteoanabole Behandlung. Welche Möglichkeiten verfügbar sind und wie man sie korrekt einsetzt, erklärt uns Dr. Thomasius im Interview.
Transkript des Interviews mit Dr. Friederike Thomasius zum Thema: Osteoporose – was gibt es Neues in 2023? Es handelt sich um eine 1:1-Abschrift des Gesprochenen im Video.
DocCheck: Hallo, Frau Dr. Thomasius. Sie sind Leiterin der klinischen Osteologie am Frankfurter Hormon- und Osteoporosezentrum und heute hier zu einem Interview zum Thema Osteoporose – was ist neu in 2023? Darüber freuen wir uns sehr.
Dr. Friederike Thomasius: Ganz herzlichen Dank für die Einladung. Mich freut das auch sehr.
DocCheck: Die Bevölkerung wird immer älter. Sehen wir da schon den erwarteten Anstieg an Osteoporosepatienten?
Thomasius: Ja, also ehrlich gesagt, wir sehen diesen Anstieg – ob erwartet oder nicht, lasse ich jetzt mal offen – an Osteoporosepatienten schon seit mehreren Dekaden. Gerade letztes Jahr ist eine sehr schöne Arbeit aus Deutschland herausgekommen, die im Deutschen Ärzteblatt publiziert wurde und bei der man zeigen konnte, dass die Inzidenz um etwa 20 % innerhalb der letzten zehn Jahre angestiegen ist. Das ist viel – extrem viel – und es ist mehr, als ich jetzt rein aufgrund des demografischen Wandels erwarten würde. Das hat mit vielen anderen Punkten zu tun, unter anderem der fehlenden Diagnostik, der fehlenden Therapie und der fehlenden Aufmerksamkeit für die Erkrankung.
DocCheck: Das ist eine schöne Überleitung zu meiner nächsten Frage: Wie schätzen Sie die Dunkelziffer ein? Bzw. andersherum betrachtet: Wie gut sind wir überhaupt darin, die Patienten mit Osteoporose zu finden?
Thomasius: Da sind wir trotz mittlerweile doch eines sehr guten Algorithmus richtig schlecht – in etwa nur jeder zweite Patient wird diagnostiziert bzw. vor allem Patientinnen – sie sind der große Teil der Osteoporosepatienten. Aber zum anderen, selbst wenn wir sie finden, werden diese Patienten eben nicht therapiert. Und das bedeutet ein Folgefrakturrisiko und einen weiteren Anstieg von Frakturen und anderen Ereignissen, die mit Osteoporose assoziiert sind.
DocCheck: Also gibt es viel Verbesserungsbedarf?
Thomasius: Aber so was von, ja!
DocCheck: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Neuerungen der S3-Leitlinie, die ja jetzt überarbeitet wurde und in Kürze erscheint?
Thomasius: Ich denke, die allerwichtigste Neuerung wird sein, dass wir auch digital gehen wollen mit der Fraktur-Risiko-Erfassung. Wir sind gerade in der Entwicklung eines Risikorechners, der webbasiert ist und der natürlich zertifiziert und validiert werden muss, aber dann im Idealfall in ein bis anderthalb Jahren zur Verfügung steht, sodass wir jetzt im Moment mit einer Papiervariante arbeiten werden. Aber wir haben eine neue Frakturrisiko-Einschätzung und das ist ein ganz großer Teil der Leitlinienarbeit gewesen, weil wir alle Risikofaktoren aufgearbeitet haben.
Im Zuge dieser Aufarbeitung von den Risikofaktoren haben wir gemerkt: Die Risikofaktoren sind eben nicht alle gleich zu werten, sondern sie verändern sich mit der Zeit. Also manche Risikofaktoren sind extrem stark, imminent erhöhen sie das Risiko für eine neue Fraktur. Das sind Frakturen selber, vor allen Dingen Wirbelkörper- und Oberschenkelhalsfrakturen. Aber das ist auch der Sturz, wenn er häufiger auftritt oder auch die Glukokortikoid-Therapie. Andere Risikofaktoren sind solche, die mit der Zeit zu Diabetes mellitus Typ II führen – denn je länger man den hat, desto stärker steigt das Risiko an. Das soll alles abgebildet werden und das hat Implikationen für Diagnostik und Therapie. Wir müssen auf die fokussieren, die ein besonders hohes Risiko haben.
Das heißt, wir müssen sie besser diagnostizieren durch eine bessere vertebrale Frakturdiagnostik, und wir müssen sie besser therapieren. Dadurch, dass wir z. B. jetzt auch sagen: Osteoanabol soll auch als allererstes gegeben werden – osteoanabol first! Das sind die Kernpunkte der neuen Leitlinie. Es gibt natürlich noch viele andere Aspekte, aber ich denke, das würde jetzt den Rahmen des Interviews sprengen.
DocCheck: Vielleicht können Sie in dem Zusammenhang direkt mal erläutern: Wie ist das typische Therapieschema bei einem Patienten oder einer Patientin, die noch keine osteoporotische Fraktur hatte, in Abgrenzung zu einem Patienten oder einer Patientin, die eben dieses schon hatte?
Thomasius: Ja, sehr gerne. Also die Patientin, die, sagen wir, ein moderates erhöhtes Risiko hat, 60 Jahre alt ist und die gut ausgeglichen Kalzium zu sich nimmt, Vitamin D supplementiert, sogar ein bisschen Muskeltraining macht – was ja auch großartig wäre, wenn das getan würde, weil das wahnsinnig wichtig ist für den Erhalt der ganzen Funktion des Knochen-Muskels – dann würde da ein mildes Antiresorptivum verordnet werden. Das sind orale Bisphosphonate oder der selektive Östrogen-Rezeptor-Modulator Raloxifen.
Wenn ich eine Patientin sehe, die multiple Frakturen erlitten hat, zum Beispiel drei Wirbelkörperfrakturen und dann wegen einer Schenkelhalsfraktur in die Klinik eingewiesen wird, dann erfolgt eine Differenzialdiagnostik und diese Patientin würde ich nicht mit einem milden Antiresorptivum behandeln. So ist auch die Empfehlung der Leitlinie: Sie muss mit etwas behandelt werden, was dazu führt, dass der Knochen rasch aufgebaut und in der Struktur geändert wird. Dieser Therapieeffekt muss vor allen Dingen eines: schnell funktionieren; weil das Folgefrakturrisiko so hoch ist. Also das sind diese Patientinnen, bei denen wir sehr klar sagen: Sie sollen osteoanabol behandelt werden. In Abgrenzung zu: Sie sollen überhaupt behandelt werden.
DocCheck: Ja, das hätte direkt meine nächste Frage jetzt schon beantwortet, denn die Osteoanabolika sind ja nicht gerade preiswert. Aber hier, Ihrer Meinung nach definitiv, haben sie ihre Berechtigung?
Thomasius: Ja, also wir hatten ja auch im Laufe der letzten Jahre, denn es hat etwas gedauert mit der letztendlichen Aktualisierung aufgrund des großen Arbeitsloads, zwei Statements schon veröffentlicht. Eins 2018 zu Teriparatid, bei dem wir gesagt haben, es soll priorisiert eingesetzt werden nach Wirbelkörper- und Schenkelhalsfrakturen. Und dann hatten wir ein weiteres Statement im Jahre 2020 zu Romosozumab, wo wir gesagt haben, die schwerer Betroffenen sollen damit behandelt werden. Wir gehen nicht hinter diese beiden Statements zurück, sondern sagen: Genauso ist es. Wenn wir das auf Hochrisikopatienten spezialisieren, diese Empfehlung, dann ist sie auch am Ende kosteneffizient.
DocCheck: Sie haben gerade schon kurz Muskelaufbau, also milden Sport, erwähnt. Gibt es noch andere Möglichkeiten nicht-medikamentöser Art, die Sie Osteoporosepatienten ans Herz legen?
Thomasius: Ja, aber immer nur additiv. Es geht nichts daran vorbei, dass man einen spezifischen Therapieansatz benötigt, um das Frakturrisiko zu senken. Sie können dazu etwas machen. Sie können sagen, als Patientin mit Darmbeschwerden: Ich nehme Vitamin K2 dazu. Oder Sie können einer Patientin sagen, höher dosiert Vitamin D zu nehmen, aufgrund einer anderen Grunderkrankung. Ganz wichtig ist bei dem Muskeltraining, dass es langsam steigernd gemacht werden muss. Der Muskel muss immer kontinuierlich gereizt werden, um auf eine höhere Stufe der Fitness zu kommen. Das können Sie alles empfehlen, aber es ersetzt nicht die Therapie. Es ist zusätzlich.
DocCheck: Haben Sie denn vielleicht noch einen Punkt, den Sie anmerken möchten, gerade im Hinblick auf unsere niedergelassenen Kollegen?
Thomasius: Mir liegt ein Punkt sehr am Herzen und das ist die Versorgung der Patientinnen, die Denosumab erhalten. Das ist eine ganz wunderbare Therapie, die alle sechs Monate subkutan injiziert wird und bei der man fantastische Knochendichtegewinne erreichen kann. Wie bei Bisphosphonaten wird bei manchen Ärzten noch immer gedacht: Da kann ich ja mal eine Therapiepause machen. Wenn das aber gemacht wird, wie es öfters in der Corona-Pandemie passiert ist, dann kann es zu einem unglaublichen Rebound des Knochenstoffwechsels führen und im schlimmsten Falle, in etwa 10 % der Fälle, eben zu multiplen Wirbelkörperfrakturen, von denen ich jetzt in der Praxis einige gesehen habe. Das heißt, die Botschaft, die ich gerne noch mitgeben würde, ist die: Denosumab ist ein fantastisches Medikament. Wenn es pausiert oder abgesetzt werden soll, müssen anschließend Bisphosphonate folgen – und zwar hochpotente, idealerweise i. v. mit Zoledronat zwei Gaben. Dann sind die Patienten adäquat versorgt.
DocCheck: Vielen Dank für das Interview und diese kompakte, wirklich gute Zusammenfassung. Hat mich sehr gefreut und viel Spaß noch auf dem Kongress.
Thomasius: Herzlichen Dank!
Bildquelle: DocCheck und Allison Saeng, unsplash+ (mobile Ansicht)