Sucht ist eine Krankheit, keine Charakterschwäche. Dennoch sind Suchtkranke in ihrem Alltag häufig mit einer schmerzhaften Stigmatisierung konfrontiert. Die Hemmschwelle, sich ihre Sucht einzugestehen und Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist dadurch deutlich erhöht. Zugleich birgt die Stigmatisierung das Risiko der sozialen Isolation, welche den Suchtdruck weiter fördert. Diesem Teufelskreis können Betroffene nur schwer entkommen, solange die Verurteilung und Ausgrenzung von Suchtkranken weiterhin an der Tagesordnung sind.
Die moderne Medizin ist inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass Sucht eine Erkrankung ist, die ebenso behandelt werden kann wie eine Grippe oder ein Magengeschwür. Dennoch gibt es nach wie vor viele Vorurteile gegenüber Suchtkranken, die mit einer Stigmatisierung einhergehen. Das hat gravierende Folgen für den Krankheitsverlauf und wirkt sich negativ auf die Heilungschancen aus.
Stigmatisierung ist ein komplexer Prozess, der immer dann in Gang gesetzt wird, wenn jemand von der Norm abweicht. Menschen, in diesem Fall Suchtkranke, werden mit negativen Stereotypen in Verbindung gebracht und infolgedessen ausgegrenzt, diskriminiert und gesellschaftlich geächtet.
Ein Stigma bedeutet dabei immer auch einen Mangel an Verständnis, der für die Betroffenen sehr entmutigend sein kann und sie letztlich davon abhält, sich professionelle Hilfe zu suchen. Tun sie dies dennoch, erfahren durch die Mitarbeiter im Gesundheitssystem aber ebenfalls Ablehnung, brechen sie die Behandlung oftmals ab und verharren notgedrungen in ihrer Sucht.
Interpersonelle Stigmatisierung: Hiermit sind Ausgrenzung, Mobbing und persönliche Angriffe durch andere Menschen gemeint. Sie können von völlig fremden Personen, aber auch von Freunden und Bekannten ausgehen. Interpersonelle Stigmatisierung kann dabei von Unverständnis bis hin zu offener Ablehnung reichen und einen Kontaktabbruch zur Folge haben.
Öffentliche Stigmatisierung: Erfahren Suchtkranke eine Benachteiligung am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche oder in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, liegt eine öffentliche Stigmatisierung vor.
Strukturelle Stigmatisierung: Viele Suchtkranke erleben eine Benachteiligung durch die Politik, durch Ämter, Versicherungen und öffentliche oder private Einrichtungen. Dies kann auch die Vergabe von medizinischen Leistungen (etwa von Reha-Maßnahmen) betreffen und auf diese Weise die Heilungschancen verringern.
Selbststigmatisierung: Suchtkranke, die über einen längeren Zeitraum interpersoneller, öffentlicher und/oder struktureller Stigmatisierung ausgesetzt sind, übernehmen oftmals die Vorurteile anderer Menschen und nehmen sich zunehmend selbst als willensschwach und „nicht normal“ wahr. Sie geben sich selbst die Schuld an ihrer Sucht und entwickeln eine Verunsicherung und Resignation, die den Weg in die soziale Isolation ebnet.
In den meisten Fällen treten die verschiedenen Varianten nebeneinander auf – das heißt, Betroffene haben sowohl in ihrem näheren Umfeld als auch im Umgang mit Behörden und Ärzten mit dieser Problematik zu kämpfen. Die Selbststigmatisierung ist dann eine längerfristige Folge der Stigmatisierung durch Dritte.
Die Stigmatisierung von Suchtkranken hat zum Teil historische Gründe, denn heute übliche Vorstellungen von Normalität und Normabweichung sind über Jahrhunderte entstanden und nehmen im gesellschaftlichen Miteinander eine wichtige Funktion ein.
Menschen möchten sich von Suchtkranken abgrenzen, um nicht selbst mit Sucht in Verbindung gebracht zu werden und um zu bekräftigen, dass sie selbst der Norm entsprechen. Das Suchtstigma ist dabei gesellschaftlich eher akzeptiert als bei anderen Gruppen – vermutlich, weil mit der Stigmatisierung ein erzieherischer Effekt einhergehen soll: Die schlechte Behandlung soll Suchtkranke motivieren, ihr Verhalten zu ändern.
Das Stigma erscheint daher vielen Menschen als legitime Antwort auf Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht. Die Diffamierung von Alkoholkranken im Alltag ist jedoch besonders groß. Das liegt wahrscheinlich daran, dass krankhafter Alkoholkonsum in vielen Fällen mit Verwahrlosung sowie mit Unberechenbarkeit und Aggressivität einhergeht.
Neben historisch entstandenen Vorstellungen von Norm und Normabweichung spielen auch die Medien bei der Stigmatisierung von Sucht eine große Rolle. So berichten die Medien häufig eher negativ statt sachlich über das Thema Sucht. Bilder von betrunkenen oder verwahrlosten Prominenten, die ihrer Sucht nicht Herr werden, sind dabei ebenso fatal wie die verfälschte und oftmals übertriebene Darstellung von Suchtkranken in Serien und Filmen.
Diese mediale Diskriminierung führt bei den Betroffenen zu Scham und hält sie davon ab, Hilfestellen aufzusuchen und eine Behandlung einzuleiten. Statt Sucht übertrieben und diskriminierend darzustellen, sollten die Medien eher über die Erkrankung aufklären und mit gängigen Vorurteilen aufräumen, um der Stigmatisierung entgegenzuwirken.
In erster Linie führt die Stigmatisierung von Sucht die Betroffenen in einen Teufelskreis: Sie nehmen sich selbst als wertlos wahr, verurteilen sich für ihr Verhalten und geben sich die Schuld an ihrer Suchterkrankung. Dazu kommt der Glaube, es nicht zu verdienen, Teil der Gesellschaft zu sein und anständig und respektvoll behandelt zu werden.
Der Verlust des Selbstwertes ist somit einer der gravierendsten Auswirkungen von Stigmatisierung. Er verstärkt den sozialen Rückzug und verfestigt letztlich auch das von Außenstehenden kritisierte Verhalten – also die Sucht.
Mit anderen Worten: Die Stigmatisierung geht mit einer bestimmten Erwartungshaltung einher, welche die Handlungsweise der Suchtkranken beeinflusst – ganz im Sinne einer „self-fulfilling prophecy“. Darüber hinaus hat die Diskriminierung für die Betroffenen noch weitere negative Folgen:
Das Vertrauen in die Berechenbarkeit des sozialen Miteinanders wird getrübt.
Der Wunsch, sich in Gruppen Gleichgesinnter aufzuhalten, wird gesteigert.
Es besteht eine beständige Angst, von anderen zurückgewiesen oder ausgegrenzt zu werden.
Das Risiko für Arbeitslosigkeit und Armut ist erhöht.
Der durch die Stigmatisierung entstehende emotionale Stress steigert außerdem das Risiko für die Entstehung weiterer körperlicher und/oder seelischer Erkrankungen. Nicht selten gehen Suchterkrankungen daher mit Angststörungen, Depressionen oder auch mit körperlichen Symptomen wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und innerer Unruhe einher.
Eine Suchterkrankung und die damit einhergehende Stigmatisierung können dazu führen, dass Betroffene sich selbst sozial isolieren oder sozial isoliert werden.
Soziale Bindungen wirken sich in hohem Maße auf die Lebensqualität und die psychische Gesundheit aus. Allerdings neigen Suchtkranke dazu, sich von Freunden und Bekannten zu distanzieren, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen: Zum einen, weil sie sich für ihren Zustand schämen, zum anderen, weil sie für die Dauer der gemeinsamen Aktivität ihren Suchtdruck aushalten müssen, was sie stark verunsichert.
Darüber hinaus geht die Distanzierung oftmals von den Freunden aus. Sie befürchten, mit dem Suchtkranken auf eine Stufe gestellt zu werden, oder aber haben Angst vor einem Kontrollverlust der betroffenen Person. Insbesondere dann, wenn solch ein Kontrollverlust bereits stattgefunden hat, etwa in Form von aggressivem Verhalten, ist das Risiko für einen Kontaktabbruch groß.
Familienangehörige sind in der Regel hartnäckiger, wenn es darum geht, dem Suchtkranken aus seiner Sucht herauszuhelfen. Irgendwann gelangen sie jedoch an einen Punkt, an dem ihnen die Kraft ausgeht und zunehmend das Gefühl entsteht, dass der Person nicht mehr zu helfen ist. Vor allem dann, wenn die Sucht zusätzlich mit Aggressionen und Gewalt einhergeht, kommt es dann zum Bruch.
Manchmal ist es auch der Suchtkranke, der auf Distanz geht, weil er sich von seinen Angehörigen bevormundet fühlt. In jedem Fall hat der Verlust von Familienbeziehungen fatale Folgen für den weiteren Krankheitsverlauf. Denn die Droge, der Alkohol oder der Spielautomat ist dann oftmals das einzige, was den Betroffenen noch Halt im Leben gibt. Einer weiteren Verfestigung der Sucht wird auf diese Weise der Weg geebnet.
Soziale Distanzierung kann als Trigger für den Konsum fungieren. Dadurch gerät der Suchtkranke abermals in einen Teufelskreis, dem er ohne Hilfe von außen nur schwer entkommen kann.
Eines steht fest: Eine Sucht schadet nicht nur dem Körper, sondern auch der Psyche – unabhängig davon, ob es sich um eine Alkohol- oder Drogensucht handelt oder ob der Betroffene immer wieder über viele Stunden seiner Spielsucht erliegt.
Eine Suchterkrankung wirkt sich negativ auf das Selbstwertgefühl und das allgemeine Wohlbefinden aus und reduziert die Lebensqualität. Dadurch steigt das Risiko für weitere psychische Erkrankungen. Experten sprechen hier von Komorbiditäten, also von ergänzenden Krankheitsbildern, die zusätzlich zur Grunderkrankung auftreten.
Insbesondere Angststörungen und Depressionen sind typische Begleiterscheinungen einer Suchterkrankung. Da die Hemmschwelle, um Hilfe zu bitten, für die meisten Betroffenen sehr hoch ist, werden diese Komorbiditäten häufig erst sehr spät, unzureichend oder gar nicht behandelt. In vielen Fällen ist es für Ärzte außerdem schwierig, eine Depression oder Angststörung zu diagnostizieren, weil die Symptome der Suchterkrankung diese überlagern.
Viele Suchtkranke empfinden Scham – weil sie wissen, dass ihr Verhalten von der Norm abweicht, und weil sie von ihren Mitmenschen immer wieder daran erinnert und womöglich sogar ausgegrenzt werden. Stigmatisierung fördert somit einen Teufelskreis, denn das nagende Gefühl der Scham lässt sich zumeist nur betäuben, indem dem Suchtdruck nachgegeben wird.
Suchtkranke haben beständig mit zwei widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen: der Sehnsucht nach Genesung und der Überzeugung, dass sie diese Genesung nicht verdienen und selbst schuld an ihrer Situation sind. Wichtig ist, das eine Gefühl – den Wunsch nach Heilung – intensiv zu fördern, denn nur so können Betroffene die Kraft schöpfen, die für eine erfolgreiche Behandlung erforderlich ist.
Welche gesundheitlichen Vorteile bringt mir die Bekämpfung meiner Sucht ein?
Wie könnte mein Leben sich ganz allgemein zum Positiven verändern, wenn ich die Sucht besiege?
Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen können Suchtkranken den Weg ebnen – zunächst in eine qualifizierte Beratungsstelle, anschließend in eine Therapie.
In dem gleichen Maße, in dem soziale Isolation eine Suchterkrankung verstärkt, kann soziale Unterstützung den Grundstein für die Genesung legen.
Soziale Unterstützung hat viele Facetten. Im Idealfall besteht nach wie vor der Kontakt zu Freunden und Verwandten, die den Suchtkranken auf seinem Weg begleiten, ihm Mut zusprechen und in schwierigen Momenten zur Seite stehen.
Ist die soziale Isolation bereits weiter fortgeschritten, können Selbsthilfegruppen und therapeutische Gemeinschaften die Tür zu einer Rückkehr ins gesellschaftliche Leben öffnen.
Allein die Erkenntnis „Ich bin nicht allein!“ kann in suchtkranken Menschen eine Menge bewirken und sie aus ihrer sozialen Isolation herausholen. Selbsthilfegruppen kommt eine dementsprechend wichtige Funktion zu. Hier können Betroffene sich in einem geschützten Rahmen austauschen, voneinander lernen, sich gegenseitig Mut zu sprechen und Hilfsangebote wahrnehmen.
Das Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit lässt sich auch auf digitalem Weg herstellen. Das ist besonders relevant im Zusammenhang mit dem Spielerschutz im Internet. Eine innovative Herangehensweise besteht darin, das Hilfsangebot zu erweitern, also es nicht mehr auf Glücksspiel zu beschränken, sondern außerdem E-Sport beim Spielerschutz zu berücksichtigen. So bietet Entain mehrere Präventionsprogramme an sowie eine Support-Community, die sich online um Spielsüchtige kümmert.
Ein großer Vorteil von Online-Hilfsangeboten ist die niedrige Hemmschwelle, um Hilfe zu bitten, denn alles geschieht anonym und Betroffene haben jederzeit die Möglichkeit, sich wieder zurückzuziehen. Allein das Wissen um diese Möglichkeit lässt viele Betroffene es überhaupt erst in Betracht ziehen, Hilfsangebote dieser Art in Anspruch zu nehmen.
Unterstützung durch nahe Angehörige wirkt sich ebenfalls positiv auf den Genesungsprozess aus. Ist der Kontakt bereits abgebrochen, kann versucht werden, diesen behutsam wieder herzustellen. Hat die Familie sich noch nicht abgewandt, sollte diese in jedem Fall darauf verzichten, dem Suchtkranken Vorwürfe zu machen. Stattdessen gilt es, Verständnis zu zeigen, auch in schwierigen Phasen am Ball zu bleiben und die Versuche, den Betroffenen Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückzuholen, nicht einzustellen.
Dass Stigmatisierung und Ausgrenzung Suchterkrankungen verstärken, dringt immer mehr ins Bewusstsein der Menschen ein. Daher gibt es inzwischen diverse Bemühungen, um beides zu reduzieren. Entstigmatisierung gelingt vor allem durch einen besseren Umgang mit Betroffenen. Statt Abwertung, Disziplinierung und Schuldzuweisung sollten Wertschätzung und Verständnis oberste Priorität haben.
Entstigmatisierung von Sucht gelingt auch über Öffentlichkeitsarbeit. In erster Linie müssen sowohl Mitarbeiter des Gesundheitssektors als auch die breite Bevölkerung über die Ursachen von Sucht aufgeklärt werden. Auch ein alternativer und besserer Umgang mit Suchtkrankheiten sollte dabei aufgezeigt werden.
Ferner ist es sinnvoll, akzeptierte und sichere Räume für den Suchtmittelkonsum zur Verfügung zu stellen, um der Stigmatisierung entgegenzuwirken. In der Realität stoßen solche Räume oftmals auf Widerstand; eine intensive Kommunikation ist daher sehr wichtig, um die Akzeptanz zu fördern.
Kampagnen zur Entstigmatisierung stoßen in der Öffentlichkeit häufig auf sehr geringe Resonanz. Ein Grund dafür ist, dass die Ausgrenzung von Suchtkranken gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist. Allerdings gilt: Es gab und gibt bislang kaum Anti-Stigma-Initiativen im Zusammenhang mit Sucht – anders als beispielsweise in Bezug auf Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen. Zum Beispiel wird jedes Jahr ein Förderpreis zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen verliehen.
Ein weiteres Problem ist, dass einige Stereotype tatsächlich zutreffen, was die Entstigmatisierung erschwert. Dies gilt beispielsweise für den Zusammenhang zwischen Alkohol und Kontrollverlust, sozial unangepasstem Verhalten oder Gewalt, auch wenn dieser nicht auf alle Suchtkranken zutrifft. Dennoch: Werden die Stereotype in der Realität bestätigt, wird das Stigma weiter verstärkt.
Gesundheitlichen Einrichtungen kommt bei der Entstigmatisierung von Suchtkrankheiten eine wichtige Funktion zu. Betroffene, die sich überwinden konnten, in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus um Hilfe zu bitten, werden nicht selten herablassend behandelt, was letztlich zur Resignation führt und Erkrankte davon abhält, erneut eine Hilfestelle aufzusuchen.
Experten empfehlen daher, bereits in der medizinischen Ausbildung Antistigma-Kompetenz zu vermitteln. Außerdem wird nahegelegt, die Suchthilfe nicht mehr als Parallelsystem zum allgemeinen Gesundheitssystem anzusehen, sondern diese Trennung dauerhaft zu überwinden. So lässt sich den Suchtkranken sowie der allgemeinen Bevölkerung gegenüber signalisieren, dass es sich bei Suchterkrankungen um ernsthafte Erkrankungen handelt, die eine medizinische Behandlung erfordern.
Die Stigmatisierung durch die Gesellschaft ist eines der größten Hindernisse, wenn es um die erfolgreiche Behandlung von Suchterkrankungen geht. Hier muss ein Umdenken stattfinden: Vom Vorurteil zum Verständnis, von der Ausgrenzung zur Hilfsbereitschaft.
Ärzte und Mitarbeiter in Gesundheitseinrichtungen müssen für dieses Thema sensibilisiert werden. Außerdem stehen Angehörige und Freunde von Suchtkranken in der Pflicht, die Hilfsangebote nicht abreißen zu lassen und der sozialen Isolation beständig entgegenzuwirken – im Zweifel mit professioneller Unterstützung von außen.